Der sterbende König (German Edition)
aus der toten Hand.
Und da sah ich sie.
Aus einer tiefer gelegenen Höhle, aus einem Durchgang zur Unterwelt, kam Erce. Sie war ein Mädchen von solcher Schönheit, dass mir der Atem stehenblieb. Das dunkelhaarige Mädchen, das in der Nacht auf mir geritten war, das langhaarige Mädchen, schlank und bleich, so schön und so gelassen und so nackt wie die Klinge in meiner Hand, und alles, was ich tun konnte, war, sie anzustarren. Ich konnte mich nicht bewegen, und sie erwiderte meinen Blick mit ernsten, großen Augen, und sie sagte nichts, und ich sagte nichts, bis ich endlich wieder zu atmen begann. «Wer bist du?», fragte ich.
«Zieh dich an», sagte Ælfadell, ob zu mir oder dem Mädchen wusste ich nicht.
«Wer bist du?», fragte ich das Mädchen, aber sie schwieg weiter.
«Zieht Euch an, Herr Uhtred!», befahl Ælfadell, und ich gehorchte ihr. Ich zog meinen Kittel an, meine Stiefel, mein Kettenhemd und schnallte mir die Schwerter um die Hüfte, und immer noch betrachtete mich das Mädchen mit seinem ruhigen, dunklen Blick. Die junge Frau war so schön wie die Morgenröte des Sommers und so schweigsam wie die Winternacht. Sie lächelte nicht, ihr Gesicht zeigte keinen Ausdruck. Ich ging auf sie zu und spürte etwas Seltsames. Die Christen sagen, wir haben eine Seele, was immer das sein mag, und es schien mir, als hätte dieses Mädchen keine Seele. In seinen dunklen Augen war Leere. Es war furchterregend, sodass ich mich ihr nur langsam näherte.
«Nein!», rief Ælfadell. «Du darfst sie nicht berühren! Du hast Erce bei Tageslicht gesehen. Kein anderer Mann hat sie jemals bei Tag zu Gesicht bekommen.»
«Erce?»
«Geh», sagte sie, «geh.» Sie wagte es, sich mir in den Weg zu stellen. «Du hattest einen Traum letzte Nacht», sagte sie, «und in deinem Traum hast du die Wahrheit gefunden. Gib dich damit zufrieden und geh.»
«Sprich mit mir», sagte ich zu dem Mädchen, aber die rätselhafte Schönheit blieb bewegungslos, schweigend und ohne jeden Ausdruck, und doch konnte ich meinen Blick nicht von ihr wenden. Ich hätte den Rest meines Lebens nichts anderes tun können, als sie immer nur anzuschauen. Die Christen reden von Wundern, von Männern, die auf dem Wasser gehen und die Toten aufwecken, und sie sagen, diese Wunder sind Beweise für ihre Religion, und dennoch kann keiner von ihnen ein Wunder bewirken oder uns ein Wunder zeigen, hier aber, in dieser feuchten Höhle jenseits des Hügelgrabes, sah ich ein Wunder. Ich sah Erce.
«Geh», sagte Ælfadell, und obwohl sie zu mir sprach, war es die Göttin, die sich umdrehte und in der Unterwelt verschwand.
Ich tötete die alte Frau nicht. Ich ging. Ich schleppte die toten Mönche ins Gestrüpp, wo sich vielleicht die wilden Tiere an ihnen gütlich tun würden, und dann hockte ich mich an den Fluss und trank wie ein Hund.
«Was hat Euch die Hexe gesagt?», fragte mich Osferth, als ich wieder bei dem Gehöft der Witwe ankam.
«Ich weiß nicht», sagte ich, und mein Ton hielt ihn von allen weiteren Fragen ab, bis auf eine. «Wohin gehen wir, Herr?», fragte Osferth.
«Wir gehen nach Süden», sagte ich, immer noch leicht benommen.
Und so ritten wir auf Sigurds Gebiet zu.
Vier
Ich hatte Ælfadell meinen Namen gesagt – und was sonst noch? Hatte ich ihr erzählt, dass ich mich an Sigurd rächen wollte? Und warum hatte ich so viel geredet? Ludda beantwortete mir diese Frage auf unserem Ritt nach Süden. «Es gibt Kräuter und Pilze, Herr, und es gibt die schwarzen Körner an den Roggenähren, es gibt die unterschiedlichsten Dinge, die in einem Menschen Träume hervorrufen. Meine Mutter hat sie auch eingesetzt.»
«War sie eine Zauberin?»
Er zuckte mit den Schultern. «Eine weise Frau jedenfalls. Sie hat gewahrsagt und Tränke zubereitet.»
«Und der Trank, den mir Ælfadell gegeben hat, damit ich meinen Namen sage?»
«Das kann das Tollkorn gewesen sein. Ihr könnt von Glück reden, dass Ihr es überlebt habt. Falsch dosiert bringt es den Träumenden um, aber wenn sie wusste, wie man es einsetzt, habt Ihr geschwatzt wie ein altes Weib, Herr.»
Und wer konnte ahnen, was ich dem aglæcwif sonst noch alles enthüllt hatte. Ich fühlte mich wie ein Narr. «Spricht sie wirklich mit den Göttern?» Ich hatte Ludda von Ælfadell erzählt, aber nicht von Erce. Dieses Geheimnis wollte ich für mich behalten, als immer wiederkehrende Erinnerung.
«Manche Menschen schwören Stein und Bein, dass sie mit den Göttern sprechen können», sagte Ludda
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