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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Dutzend Treiber zurück, ohne zu wissen, was er tun sollte.
    Sie warteten, bis der letzte Jäger Aufstellung genommen hatte, dann gingen sie ein Stück über die Straße zum bergaufführenden Teil des Waldes, den sie durchkämmen sollten. Ascher sah die wartenden Jäger schon in den Wiesen und Feldern an den Telegrafenmasten lehnen. Gleich darauf wurden die Hunde ausgelassen. Sie raschelten im Laub, bellten, hielten die Schnauze auf dem Boden und schnüffelten an den Bäumen, während die Treiber pfiffen, sie anspornten und schrien.
    Zu Beginn waren auf der anderen Seite des Waldes Schüsse gefallen, die Treiber waren jedoch, ohne sich darum zu kümmern, weitergehastet, und Ascher war nur noch damit beschäftigt gewesen, Zeiner nicht aus den Augen zu verlieren. Seine Brille lief an, er nahm sie von der Nase, wischte sie im Gehen ab und setzte sie wieder auf. Gleichzeitig hörte er ein hohes Klagen, das jäh abbrach. Zeiner lief jetzt und schrie, Ascher sah einen Hund auftauchen, der – einen Hasen im Maul – sich schüttelte, um sich fester zu verbeißen. Die Augen des Hasen waren weit geöffnet und dunkel, und der Schädel baumelte am Genick. Es kam Ascher vor, als habe der Hund ihn aus einer anderen Wirklichkeit gezerrt und der Hase erst dadurch das Leben verloren. Sein weißes Brustfell war mit winzigen Blutstropfen bedeckt, aber dem Anblick fehlte das Erschreckende, das mit dem gewaltsamen Tod verbunden war. Aschers Brille hatte sich wieder beschlagen, und während er sie neuerlich abwischte, sah er undeutlich, wie Zeiner dem Hund den Hasen entriß, mit einem Messer einen Hinterlauf durchstach, den anderen durch die Öffnung zog und ihn am ausgestreckten Arm hinunterbaumeln ließ. Das alles war so schnell geschehen, daß Ascher kaum Zeit gefunden hatte, sich Gedanken zu machen. Er hatte die Absicht gehabt, einen klaren Kopf zu behalten, nun aber wurde er mit einem Schlag in den raschen Ablauf eines Geschehens miteinbezogen. Er war nicht in der Lage, sich der Selbstverständlichkeit, mit der alles geschah, anzuvertrauen, und er bemerkte, wie er sich gerade vor ihr zurückzog. Er hatte jetzt dasselbe Gefühl, wie wenn er durch das Mikroskop auf Blutzellen oder Wassertierchen schaute: Sie waren ganz nah, enthüllten immer mehr ihre wahre Gestalt, und doch waren sie gleichzeitig unendlich fern. Einmal hatte er gedacht, daß es die Stille des Arbeitszimmers gewesen war, die diese Nähe zwischen den mikroskopischen Präparaten und ihm hergestellt hatte und ihn die Vortäuschung der Nähe nicht hatte spüren lassen, hier indessen war es der Ablauf der Ereignisse, der von seiner Anwesenheit unbeeinflußt war (genauso wie ein Blatt oder ein Sonnentierchen ihr Aussehen hatten, unabhängig davon, ob er es kannte oder nicht). Er hatte nur die Möglichkeit wegzusehen, über die er aber nicht frei entscheiden konnte, denn wie unter einem Zwang folgte er dem Geschehen. Hinter dem Jungwald waren die Hunde in gelbem Farnkraut, das aussah wie eine abstrakte Naturform, verschwunden. Es schwankte und raschelte unter der Bewegung der Tiere. Die Treiber waren stehengeblieben und warteten, da, wie Zeiner erklärte, jemand einen Fasanenhahn aufgestöbert hatte. Die Sohlen seiner Stiefel gaben im sumpfigen Boden ein glucksendes Geräusch von sich. Ascher tat die Pause wohl. Er trocknete die Stirn vom Schweiß und blickte sich um. Gleich darauf fielen in die Rufe der Treiber Schüsse, und ein Hase kollerte den Abhang hinunter, über den er zu fliehen versucht hatte. Die Treiber lachten. Sie warteten, bis der Jäger, der den Hasen geschossen hatte, dabei war, ihn in einen Rucksack zu stopfen, oder kamen mit den Gewehren auf den Schultern zwischen den Baumstämmen hervor. Ihre Freude beschämte Ascher. »Wie schwerfällig ich bin«, dachte er. Weshalb konnte er an der Freude nicht teilhaben? Er entdeckte keinen Schrecken in sich, keine Abscheu. Alles, was er fühlte, war ein Bewußtsein der Andersartigkeit. Er sah dem Hund des Jägers zu, der um den erlegten Hasen herumsprang, ihn anbellte und zu fassen versuchte, dann aber auf einen sanften Fußtritt hin weiterzusuchen begann. Da der Rucksack zu klein für den Hasen war, hängte ihn der Jäger zwischen den Rucksackverschluß, so daß der Hase mit dem Schädel auf einer Seite und den Läufen auf der anderen herausbaumelte.
    Zum ersten Mal dachte Ascher, daß die Urteile über den Tod vom menschlichen Auge gefällt wurden. »Wäre ein Hase so klein wie eine Fliege, ich würde seinen Tod

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