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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Werkzeugen, Waffen und Kunstgegenständen Verstorbener türmten sich in den Gängen und Zimmern seines Hauses. Er sei ein merkwürdiger Mann, fügte er nach einer Pause hinzu.
    Einmal sagte er nachdenklich: »Jaja …«, dann: »Jetzt werde ich aber gehen.« Dann, nach einer Weile, ging er. Die Spinne hatte sich gerade in einem gerollten Blatt versteckt. Noch bevor der Mann gegangen war, hatte er das Blatt in die Hand genommen und war, nachdem er einen beiläufigen Blick darauf geworfen hatte, mit dem Fuß auf die herausgefallene Spinne getreten. Dabei hatte Ascher gesehen, daß seine Füße nackt waren.
     
    Er kam zu spät zum Mittagessen und traf nur die alte Stiefschwester an. Sie hatte ein rundes, fast starres Gesicht, in dem keine Gefühlsregung zu lesen war. Sie war klein und bewegte sich schnell. Bevor sie antwortete, ließ sie sich Zeit, so daß Ascher nie sofort wußte, ob sie seine Fragen gehört hatte. Ihre Antworten waren knapp und eindeutig, wie auch ihre Bewegungen nie zwecklos waren. Nach dem Essen war er unschlüssig, was er tun sollte. Im Vorgarten neben Zeiners Haus blühten Dahlien. Ascher ließ seine Gedanken abschweifen. Die Eltern seiner Frau besaßen einen kleinen Garten, in dem sie Dahlien gepflanzt hatten: gelbe »Roi des Pompons jaunes«, die ihm wie Hutblumen vorgekommen waren, lilarosa und weiße »Siemon Dorenbosch« und rote »Jescot Lingold«, die einen gelben Rand hatten. Er dachte an seine Schwiegermutter, die schlecht sah und für die er aus den Gartenkatalogen die Dahliensorten aussuchte und auf eine Bestellkarte schrieb. Jedes Jahr im Spätherbst grub sie die Knollen aus und trocknete sie auf dem Dachboden, bevor sie sie wieder einsetzte. Und jedes Jahr ergänzte und erweiterte sie den Garten mit neuen Dahlien. Er lächelte darüber, daß er die Namen der Sorten in Zeiners Vorgarten kannte: scharlachrote »Bishop of Llandaff«, grünlichweißen »Friedensgruß« und violettrosa, über einen Meter hohe »Praesident Moes« … Zeiners Schwiegervater, der Holzspäne schnitt, ein Mann mit einem mächtigen, glatzköpfigen Schädel und einem aufgezwirbelten Schnurrbart, lachte zu ihm herüber. »Gefallen Ihnen die Blumen?« rief er. »Ja«, antwortete Ascher. »Frauen sind schöner«, rief der Mann lachend.
    Im Graben flog eine riesige Krähe aus einem der Äcker. Sie verschwand so plötzlich in einem Baum, daß sie ihn an ein Traumbild erinnerte. In seinen Träumen waren Tiere und Gegenstände oft unverhältnismäßig groß.
    Von weitem sah er die Kirche von St. Ulrich, ein großes, gelbes Gebäude mit einem Zwiebelturm. Der Verputz war abgeblättert, so daß es aussah, als sei das Gemäuer feucht. Schulkinder spielten und lärmten drinnen. Auf der Altarbank lagen Salatbüschel, Kürbisse, Äpfel und Paradeiser. Maiskolben vom Erntedankfest hingen an den Betpulten. Ascher hatte ein Gefühl von Abgeschiedenheit, das ihm wohl tat. Die Schulkinder rutschten über den Steinboden, liefen zur Kirchentür, lachten, glucksten und flüsterten. Ascher brachte es nicht zuwege, so zu tun, als besichtige er die Kirche, während er im stillen betete. Er konnte nur warten, bis die Kinder nach Hause gingen. In der Mitte der Kirche stand auf einem Gestell eine Erntekrone aus geflochtenen Weizengarben. Als die Kinder im Spiel die Tür zu einem Beichtstuhl aufrissen, sah er eine nackte Glühbirne herunterhängen. Eine Decke war mit Reißzwecken an einer Bank befestigt, von einem Haken hing eine Priesterschleife. Noch bevor die Kinder den Beichtstuhl schlossen, erkannte er, daß die Holzgitter mit Cellophanpapier abgedeckt waren.
     
    Unterwegs besorgte er sich Mausefallen, die er mit Schweinefett als Köder in der Küche und im Dachbodenzimmer aufstellte. Golobitsch hatte ihn im Kaufhaus – wobei er sich halb lustig gemacht hatte über ihn – darauf aufmerksam gemacht, daß er in der Küche Mäuse gesehen habe. Die Blumenkästen standen nicht mehr auf dem Herd, wahrscheinlich hatte Golobitsch sie in den Keller geräumt. Er suchte den Histologischen Atlas. Wieder betrachtete er die Abbildungen, die Bilder blieben jedoch, was sie waren, und bei dem Gedanken an die weite Landschaft vor dem Haus kam es ihm lächerlich vor, daß er seinen Gedanken eine Bedeutung beimaß.
     

6
     
    Als er am Nachmittag darauf das alte Haus betrat, sprang zu seiner Überraschung ein Fuchs vom gemauerten Herd in die Mitte des Raumes, blieb für den Bruchteil einer Sekunde stehen und starrte ihn an. Dieser Sekundenbruchteil

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