Der stille Sammler
brachte, spülte die Steine von den umliegenden Bergen hinunter ins Flussbett.
An jenem Tag Anfang August war ich allein zu der Stelle gewandert, hatte meinen Rucksack mit zehn Kilo Steinen gefüllt, die ungewöhnlich und bunt aussahen, und war den Berg hinauf zurückgestapft, ein bisschen benommen von der extremen Hitze, aber froh über die Trainingseinheit.
Bald kam unser Garten am östlichen Rand der Black Horse Ranch in Sicht. Wir waren eine moderne Absonderlichkeit, umgeben von den echten Wüstenbewohnern. Leuten mit Pferden. Leuten, die in ihren Anhängern Meth kochten. Wenn es regnete, konnte man Pferdedung riechen, und gelegentlich flog einer der Wohnwagen in die Luft.
Falls sich das zynisch anhört – es war nicht so gemeint. Nachdem ich den größten Teil meines Lebens in der Stadt verbracht hatte, liebte ich diese ländliche Gegend, so wie man einen schmuddeligen alten Onkel liebt, der fesselnde Geschichten aus dem Krieg erzählt. Ich liebte den Geruch nach Pferdedung und das gelegentliche Schreien eines Esels, wenn der Wind ganz still war, und ich liebte das Knallen der Schüsse, das vom Pima Pistol Club herüberwehte und mich an alte Zeiten erinnerte.
Am meisten aber liebte ich Carlo. Er war groß wie Lincoln, redete mit leichtem italienischem Akzent, besaß eine römische Hakennase, schwermütige Al-Pacino-Augen und ein Böse-Jungen-Grinsen, das den Ausdruck seiner Augen gleich wieder Lügen strafte.
Während ich den Rucksack in die Küche schleppte und die Steine ins Spülbecken schüttete, um sie abzuwaschen, war Carlo damit beschäftigt, aus Wasser und erdbeerfarbenem Pulver Nektar für die Kolibris anzurühren. Ohne mich zu fragen, hatte er den Futterapparat in die weiße Dornakazie im Vorgarten gehängt, sodass ich das Spiel der Kolibris von meinem Arbeitszimmer aus beobachten konnte.
Der Anblick, wie Carlo mir zuliebe auf die Leiter stieg, um den Futterapparat anzubringen, ließ mein Herz … nun ja, »vor Liebe überquellen« mag wie eine abgedroschene Phrase klingen, aber es traf den Nagel auf den Kopf.
Ich weiß, das ist eine ungewöhnlich starke emotionale Reaktion auf einen Mann, der nichts weiter tut, als einen Vogelfutterautomaten anzubringen. Aber wer nicht Tag für Tag mit einer unerträglichen Anspannung in der Brust gelebt hat, so wie ich, bis die Gefahr dann endlich Vergangenheit ist, wird nie richtig zu schätzen wissen, wie wundervoll es ist, ein ruhiges Leben zu führen.
Jetzt lebte ich also friedlich mit einem liebevollen Mann zusammen, der so einfühlsam war, dass er Kolibris fütterte, um mir eine Freude zu machen. Hört sich das schwülstig an? Und wenn schon. Scheiß drauf.
»Was hast du da Schönes?«, fragte er, während er den Nektar mithilfe eines Trichters in den transparenten Plastikcontainer goss. Seine tiefe Stimme und das Funkeln in seinen Augen machten die Frage zu etwas eindeutig Zweideutigem.
»Bloß ein paar hübsche Steine, Professa. Du musst mir schon selbst sagen, was ich Schönes habe.«
Ich drehte mich zum Spülbecken mit den Steinen um, wusch einen nach dem anderen ab und legte sie nass auf die Theke aus Granit, wo sie darauf warteten, von Carlo in Augenschein genommen zu werden.
Das Abspülen verstärkte die lebendigen Farben, ein weiches Rot wie Blut, ein blasses Gelb wie von Vanilleeis, grüne runde Sprenkel wie bei einem Dinosaurierei, Silber, durchsetzt mit schwarzen Punkten, wie ein Negativ des Nachthimmels. Wir schlugen im Farbatlas über Mineralien in den südwestlichen Vereinigten Staaten nach, um herauszufinden, was wir vor uns liegen hatten.
Carlo war ebenso wenig Geologe wie ich. Bevor er Professor für Philosophie geworden war – und vor seiner Ehe mit Jane –, war er eine Zeit lang katholischer Priester gewesen. Father Carlo DiForenza konnte einem die Grundlagen der linguistischen Philosophie genauso gut erklären wie die Prinzipien der vergleichenden Religionswissenschaften – und so einleuchtend, dass selbst eine Miesmuschel es begriffen hätte.
Jedenfalls, Carlo und ich saßen Seite an Seite auf den Hockern an der Frühstückstheke. Ich beobachtete, wie er seinen hageren Oberkörper über die Steine beugte, ähnlich einer Giraffe, die ihre Jungen beschützt. Dann glitten seine schlanken Finger über meine Fundstücke, während er eines nach dem anderen gebührend bewunderte.
»Puddingstein«, sagte er und deutete auf eine Abbildung im Buch. »Siehst du die Quarzeinschlüsse? Ergussgestein. Die ungeheure Hitze hat den Granit
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