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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Specht
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trieb zusätzlich wieder Sport. Ich hatte in die Excel-Tabelle mein Ausgangsgewicht von 72 Kilogramm eingetragen und damit begonnen, mich täglich zu wiegen. Mein Ziel war klar: minus 18 Kilo. Ich wollte wieder die 55 Kilo unterschreiten.
    Die Sonne strahlte warm auf mein Gesicht, und ich musterte das rege Treiben rund um das Café. Kinder zogen ihre Eltern zum Eisstand und bestanden darauf, ihr erstes Eis in diesem Jahr zu bekommen. Wie glücklich diese süßen Gesichter ausschauten, als sie ihr Eis dann endlich in der Waffel halten und schlecken konnten. Eine ältere Dame stand auf ihren Rollator gebeugt und lächelte selig, die Kinder beobachtend. Kinder. Ein verdrängter Wunsch regte sich in mir. Mit Karl war das ausgeschlossen. Aber einen Schritt nach dem anderen.
    Es wurde Zeit, wieder zurück in den Jossgrund zu fahren. Ich genoss die Fahrt oben ohne, heizte aber das Auto von unten, weil der Fahrtwind doch noch recht kühl war. Lisa kam immer recht früh von der Arbeit und war es auch gewohnt, gegen 18 Uhr zu essen. Also hatte ich ihr gesimst, dass ich gegen halb sechs bei ihr sein würde.
    Als ich mein Auto vor dem Haus parkte, in dem sie ihre kleine, aber schnuckelige 2-Zimmer-Wohnung hatte, öffnete sie das Fenster und winkte mir zu. Sie hatte mich wohl kommen gehört oder gesehen. Ich packte den Einkaufskorb und stieg die Treppe nach oben. Wir nahmen uns in den Arm und drückten uns lange.
    „Schön, dich zu sehen, meine liebe Lisa.“
    „Schön, dich zu sehen“, antwortete sie.
    „Lisa, du setzt dich jetzt auf das Sofa und liest ein Buch oder wir quatschen, während ich koche. Ich möchte dich überraschen, also kannst du mir nicht helfen.“
    Sie wollte protestieren, aber ich ließ es gar nicht dazu kommen. „Hier, ein kleines Geschenk. Ein Malblock und Stifte, damit du wieder deine süßen Tiere zeichnen kannst. Oder du kannst für den Aperitif sorgen. Aperol Spritz auf Prosecco mit Eis. Du hast doch Eis in deinem Eisfach?“ Lisa kümmerte sich darum.
    Dann legte ich den Weißwein ins Eisfach, um ihn schnell und brutal herunterzukühlen. Weinpuristen hätten sich bestimmt mokiert, aber mir war es völlig egal. Schnell erledigte ich die wenigen Vorbereitungen und nippte ab und zu am Aperitif. Lisa hatte sich dafür entschieden, die Zeitung zu lesen, weil sie am Morgen nicht dazu gekommen war.
    Fast pünktlich um 18 Uhr war alles fertig, und ich servierte Spaghetti mit Kaviar. Ich wusste, dass Lisa Kaviar liebte, und war gespannt, ob ihr das Rezept schmecken würde. Es war einfach und schnell zuzubereiten. Spaghetti abkochen, in Butter schwenken, Creme fraiche unterrühren und den Kaviar oben drauf. Dazu eisgekühlten Chablis.
    „Mensch, das schmeckt ja genial“, seufzte Lisa mit geschlossenen Augen. „Und der Wein!“
    „Ich muss mich doch noch bei dir bedanken. Du hast mir neulich nachts so sehr geholfen. Das war sehr tapfer von dir.“
    „Wieso tapfer? Das war doch selbstverständlich.“
    „Nein, war es nicht. Du weißt, dass Karl unberechenbar und jähzornig ist. Er schreckt vor nichts zurück.“
    Sie schwieg eine Weile. Vielleicht hatte sie es nicht so dramatisch gesehen.
    „Wie läuft es denn jetzt mit euch?“
    „Keine Besserung in Sicht. Ich habe ihm lediglich gesagt, dass ich erneut weglaufe und für immer, wenn er mich wieder schlägt.“
    „Wie war seine Reaktion?“
    „Er hat mich angeknurrt und bedroht. Er würde weder Geld noch Mühe scheuen, mich wieder einzufangen, und dann Gnade mir Gott.“
    Lisa wurde bleich. Sie trank einen viel zu großen Schluck des wundervollen Weins. „Und jetzt?“
    „Ich weiß auch nicht. Ach doch“, fiel mir gerade ein, dass ich Lisa noch nichts von meinem Besuch bei Dr. Bring erzählt hatte. „Ich war bei deinem Therapeuten, Dr. Bring.“
    Die Miene von Lisa hellte sich auf. „Und?“, fragte sie erwartungsfroh.
    „Na ja, ich weiß nicht so recht.“
    Gleich wurde ihr Mienenspiel wieder düster. „Wieso, war meine Empfehlung nicht gut?“
    „Das kann ich jetzt nach diesem einen Gespräch nicht sagen. Er war“, ich zögerte, weil mir die Worte fehlten. Lisa schaute ganz gespannt.
    „Er war so … so ruhig, auf der einen Seite, fast teilnahmslos, nein, das stimmt nicht. Doch irgendwie auch Anteil nehmend, einfühlsam.“
    Lisa schien enttäuscht zu sein. Also überlegte ich, wie ich ihre Empfehlung besser wertschätzen konnte.
    „Du hast schon Recht. Er ist unglaublich klar. Stellt wenige Fragen, hält den Redefluss aufrecht.

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