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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Specht
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ihn einschätzen sollte. War er ein Chamäleon? Und mit seiner nächsten Frage verblüffte er mich erneut.
    „Du wolltest mir erzählen, wieso du keinen Vornamen hast.“
    Ups. Die Frage saß. Lügen haben kurze Beine. Ich wollte mich mit Ausflüchten retten.
    „Tim, es ist zu früh dafür. Ich erzähle es dir. Ganz bestimmt.“
    Er senkte seinen so beeindruckenden Kopf mit dem wilden Schopf. Seine Augen schienen den Boden zu mustern, als ob dort eine Antwort auf seine Frage geschrieben stünde. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Mist. Wieso wollte ich mich auf so erbärmliche Art und Weise durch mein Leben mogeln? Er hatte es zumindest überhaupt nicht verdient. Noch zögerte ich.
    Dann sah er mich aus seinen gletscherblauen Augen tiefgründig an. „Du vertraust mir nicht.“
    War es eine Frage oder eine Aussage? Seine Stimme war tonlos. Eine Träne kroch aus meinem Auge hervor. Ich konnte sie nicht stoppen. Er schien sie zu sehen und, wie ich dem Zucken seiner Iris entnehmen wollte: Sein Auge folgte dem Lauf meiner Träne. Laufen. Los, schrie auf einmal die mutige innere Stimme! Die andere schwieg.
    „Tim, es tut mir leid.“ Er wartete geduldig. Wie ein Gletschersee. Tiefblau. Doch auch ganz anders. Warm. Ich nahm all meinen Mut zusammen.
    „Also gut. Ich erzähle es dir.“ Tief durchatmend begann ich. „Ich war damals 12 Jahre alt. Mein Vater schlug mich. Regelmäßig. Die Anlässe waren für mich nicht erkennbar. Auch an diesem einen besonderen Tag nicht. Er hatte riesengroße Pranken. Aus irgendeinem Grund machte ich ihn so wütend, dass er mit seiner linken Hand so zuschlug, dass ich umgeworfen wurde. Mein Kopf schlug an die Tischkante, und ich wurde sofort bewusstlos.“
    Tim schaute mich an. Sein Gesicht schien zu zittern. Ein Beben durchlief seinen Körper. Ich sah, wie er seine Fäuste ballte.
    „Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Krankenhaus. Ich hörte, wie ein Arzt mit meiner Mutter sprach. Er sagte, dass ich ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hätte. Daraus könnte sich eine retrograde Amnesie entwickeln. Meine Mutter fragte, was das zu bedeuten hätte. Er antwortete, es könnte sein, dass ich dann Teile meiner Biografie vergessen hätte, also mich an bestimmte Zeiträume oder Ereignisse meines bisherigen Lebens nicht mehr erinnern würde. Meine Mutter nahm es so hin, wie sie meinen Vater zeitlebens hingenommen hatte. In Demut und völliger Unterwerfung. Ganz bewusst hielt ich meine Augen geschlossen. Ich wollte nicht, dass sie mein Erwachen bemerkten.“
    Sein Körper spannte sich erneut. „Wie ging es weiter?“
    „In der Tat hatte ich etwas von mir vergessen.“
    Er schien es nicht zu wagen, die Frage zu stellen. Ich hatte Angst, es ihm zu sagen. Also schwiegen wir eine Weile. Sehr lang. Langsam löste sich die gemeinsame Versunkenheit auf, und zumindest ich hörte wieder Laute der äußeren Welt. Sie befreiten mich von der Klammer der Gemeinsamkeit. Ich wollte aufstehen und gehen. Und tat es auch.
    Sanft und doch fest nahm er mich an der Hand. Er sagte nur ein Wort: „Bitte.“
    Er hatte Recht. Ich durfte nicht schon wieder weglaufen. Kurz vor dem Ziel. Meine Stimme zitterte, als ich zu sprechen begann.
    „Mein Vorname war verschwunden.“
    Offensichtlich mussten wir beide darüber nachdenken. Er, um es überhaupt zu verstehen. Ich, um es zu begreifen. Er war mutiger als ich.
    „Ich verstehe es nicht. Dein Vorname war verschwunden? Was bedeutet das?“
    Diese Frage konnte ich ihm auch nicht beantworten. Aber ich konnte ihm ein Beispiel geben.
    „Pass auf. Ich wurde wenige Tage später aus dem Krankenhaus entlassen und ging wieder zur Schule. Im Unterricht war ich anfangs sehr abwesend. Die Lehrerin versuchte mich natürlich wieder in den Unterricht zurückzuholen und nannte mich bei meinem Namen. Ich schaute wohl aus dem Fenster, was man als mangelnde Konzentration oder Abwesenheitssyndrom interpretierte. Meine Mitschülerinnen bekamen es natürlich mit und stupsten mich, damit ich antworte. Irgendwann lernte ich dann, diese Muster zu verstehen und reagierte auf die körpersprachlichen Signale der Lehrerin oder Mitschüler. Aber meinen Vornamen konnte ich nicht hören und weiß ihn bis heute nicht.“
    Was passierte da in seinem Gesicht? Da zuckte es, als ob Blitze in seine glatte Haut einschlugen. Er schien auf einmal um zehn Jahre gealtert zu sein.
    „Du weißt deinen Vornamen wirklich nicht?“
    Was sollte ich ihm sagen. Es war so.
    Unsere gemeinsame Betroffenheit ließ

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