Der stille Schrei
Kopf in seine Richtung drehen? Die inneren Stimmen meldeten sich: Ja, du blöde Ziege, er will dich küssen, er will mit dir schlafen. Die andere: Bist du verrückt? Wenn Karl dich erwischt, schlägt er dich tot.
Blöde Ziege. Hatte Lisa das nicht gesagt? Hatte sie noch eine Beziehung mit ihm? Schlief sie mit ihm?
Ich stand abrupt auf. „Lass uns weiterlaufen.“ Dann lief ich los. Ich merkte sofort, dass er mir nicht folgte. Lief ich weg? Wovor? Vor mir? Vor ihm? Meine Schritte wurden langsamer. Ich drehte mich um. Er saß noch immer auf dem Baumstamm.
Ich wartete, würde aber keinesfalls einen Schritt auf ihn zu machen. Die Uhren blieben stehen. Der Wald wurde still. Alles gefror.
Irgendwann begann die Welt, wieder aufzutauen. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, dass er auf mich zukam. Dann stand er direkt vor mir.
„Claudia, ich möchte mir dir schlafen. Kinder bekommen. Du bist die Frau meines Lebens.“
Schon wieder zerteilte mich der Blitz in meine beiden Persönlichkeiten. Sprach die eine: Sag sofort ja. Sprach die andere: blöde Ziege. Er hat dasselbe mit Lisa angestellt. Fällst du auf alle Männer rein? Denke an Karl!
Das Korsett der ewigen Salzsäule hielt mich umfangen. Ich wusste nicht ein noch aus.
Der Wald erwachte aus seiner Erstarrung und riss mich mit. Irgendeiner der Spechte, offensichtlich meine Freunde und Wegweiser, wies mir wieder mit seinem Klopfen den Weg. Andere Vogelarten zwitscherten mich ebenfalls voran. Vogelgezwitscher. Twittern fiel mir gerade ein. Immer dasselbe evolutorische Prinzip.
Und Tim? Er wartete immer noch voller Geduld. Ich war ihm eine Antwort schuldig. Was sagten meine inneren Stimmen? Die eine blendete ich aus. Blöde Ziege. Die andere könnte obsiegen.
„Später, Tim. Es ist noch zu früh.“
Dann lief ich weiter. Tim folgte mir.
SEELENKATER
Der nächste Morgen. The day after. Verfiel ich jetzt auch schon in die Anglizismen von Tim?
Irgendetwas quälte mich noch immer nach den Strapazen des letzten Tages. War es Muskelkater? Zu viel Milchsäure in den Muskeln? Nein, das hatte mir Tim erklärt. Ein Ammenmärchen der Sportphysiologie. Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen. Muskelfaserrisse waren die heute gesicherte Erkenntnis eines körperlich gespürten Muskelkaters. Und morgen? Keine Ahnung. Wenigstens ich war ehrlich.
Ja, der Körper tat weh. Aber noch viel mehr tat etwas anderes weh. Meine Seele. Seele. Was war das eigentlich? Jedenfalls tat sie weh.
Was war oben auf dem Schwarzen Berg eigentlich passiert? Was hatte er zu mir gesagt? Kinder?
Schwarzer Berg, schwarzes Loch. Irgendwie hatte ich die entscheidenden Worte verpasst oder vergessen. Verdrängt?
War er immer noch mit Lisa zusammen? Lisa. Meine beste Freundin. Ich brach in Tränen aus. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, griff ich zum Handy und wollte sie anrufen.
Doch ein Impuls ließ mich eine andere Nummer wählen. „TPT …“ Sofort drückte ich die rote Taste. Nein, keinesfalls mit seiner „Maschine“ sprechen.
Erschöpft ließ ich mich zurück in die Weichheit des Wasserbettes fallen. Schwimmen. Wasser. Ozean.
Mein Handy klingelte. Ich ließ es läuten. Später auf der Mailbox: „Claudia? Ich war wieder zu langsam. Claudia, bitte geh dran.“
Ging das technisch? Keine Ahnung. Früher im Festnetz mit angeschalteten Anrufbeantwortern konnte man das sagen und machen.
Seufz. War ich immer noch auf der Höhe der Zeit? Auf der Höhe des … Schwarzen Bergs? Da kam er mir wieder in den Sinn.
Das Handy klingelte erneut. Ich schaute mir die Rufnummer an und beschloss, den Anruf anzunehmen.
„Ja, Tim?“
„CLAUDIA!“ Ich nahm das Handy ganz schnell von meinem Ohr weg. Er kam mir zu nah.
„Claudia, hallo, hörst du mich?“
„Ja, Tim. Weshalb rufst du an?“
„Du hast doch angerufen.“
Oh nein, schon wieder diese Rechthaberei. Ich hatte es satt. Also schwieg ich.
Aber er verstand es sofort. „Ich wollte unbedingt mit dir sprechen.“
„Warum?“
„Da oben, auf dem Schwarzen Berg.“
„Ja?“
„Claudia, bitte verzeih mir. Aber du bist die Frau meines Lebens.“
„Was ist mit Lisa?“
Nur eine winzige Pause. „Lisa. Das tut mir leid. Wir hatten einen One Night Stand. Ich war lange schon so einsam. Wir trafen uns auf der Wegscheide. Dort finden ab und zu kleine Partys statt. Einige meiner Klienten, nein, nicht der Landrat, gingen dorthin und luden mich ein.“ Pause. „An diesem einen Samstag war ich das erste und das letzte Mal dort. Ich traf Lisa.
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