Der stille Schrei
bester Ordnung erscheinen zu lassen. Ich brauchte wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben.
Verdutzt über diesen Vorstoß fragte er lauernd: „Was gibt’s?“
„Ich habe beim Fleischer Bien ein T-Bone für dich bestellt und heute abgeholt. 800 Gramm. Dazu Bratkartoffeln.“
Nie würde er zugeben, dass dies sein absolutes Leibgericht war. Knuspriges Fleisch und knackige Bratkartoffeln. Gnädig nickte er. Ich fühlte mich gut. Manchmal muss man eben im Leben auch Glück haben.
QUALEN
Die nächsten Wochen verliefen in absoluter Einsamkeit. Lisa war aus meinem Leben verschwunden. Meine beste Freundin war weg. Wenn ich ehrlich zu mir war, musste ich noch ergänzen: meine einzige.
Mit Karl bestand ein Waffenstillstand, natürlich in unterschiedlichen Gattungen. Andere Menschen gab es in meinem Leben nicht. Dr. Bring? Ich konnte keinen Mehrwert eines weiteren Besuchs erkennen. Andere Freunde oder Freundinnen? Die gab es schon deshalb nicht, weil ich die Frau von Karl war. Vorzeigefrau. Von allen beobachtet. Sogar in Bad Orb. Offensichtlich hatte Lisa doch einiges an Wahrheit vermittelt.
Und dann war da noch Tim. Gut, dass ich zumindest mit dem Training weitermachen durfte. Interessant, dass Karl gar nicht nach den Kosten gefragt hatte. Übersehen? Desinteresse? Keine Ahnung. Ich nahm es als weiteres Glücksmoment meines Lebens hin.
Das Training entwickelte sich immer anspruchsvoller. Ich hatte nicht gedacht, dass so viele Feinheiten zu berücksichtigen wären. Das amerikanische Buch, das ich mir zwischenzeitlich besorgt hatte, war sehr interessant zu lesen. Ich hatte viel daraus gelernt.
Heute stand wieder eine Trainingseinheit mit Tim an. Meine Leistungen waren geradezu explodiert. Ich war schon einige Male zwanzig Kilometer gelaufen. Die Zeiten wurden immer besser. Die Waage bescherte mir morgens immer öfter weitere Glücksgefühle. Der aktuelle Stand: minus 11 Kilogramm! Nun hätte ich das Chanel-Kostüm nicht mehr verkaufen müssen. Dennoch: Es war richtig!
Tim und ich trafen uns dieses Mal im Jossgrund. Wir hatten eine 3-Stunden-Trainingseinheit vereinbart. Die rechnerisch veranlagte kritische Stimme meldete, nun etwas leiser geworden: interessant, 600 Euro, weit oberhalb der monatlichen Bezüge für Hartz-IV-Empfänger.
Er hatte mir zur Vorbereitung gesagt, dass es ein ganz besonderes Event werden würde. Ein Lauf zum Schwarzen Berg. Als Orientierungslauf. Ich sollte lernen, mich zu orientieren. Wie doppeldeutig.
Irgendwie war ich in den letzten Tagen etwas neben mir gewesen. Die Einsamkeit hatte mir zugesetzt. Zwar ging es mir körperlich besser denn je, aber seelisch litt ich Qualen. Ich träumte von Lisa. Es waren schreckliche Gefühle, die dabei hochkochten. Manchmal wurde ich wach. Dann lag ich gefühlte Ewigkeiten schlaflos im Bett. Am nächsten Morgen kam ich kaum aus den Federn. Jeder Knochen, jeder Muskel ein Feuer aus Schmerzen.
Tim kam in Burgjoss an. Interessanterweise mit einem Rennrad. Verrückter Typ. Vermutlich hatte er beim Fahren wieder einige neue Klienten gewonnen. Ich war zwar geschniegelt und gestriegelt, aber keinesfalls auf den Lauf vorbereitet. Die Strecke hätte ich im Internet bei Google Earth recherchieren können. Außerdem hatte ich die Wanderkarte Jossgrund irgendwo im Haus in einer Schublade.
Zu spät. Er war da. In seiner hunderprozentigen Präsenz. Nie einen Millimeter Spielraum für Unvollkommenes, ob es Planung, Durchführung oder Humor lautete. Das erste Mal überhaupt kam mir der bewusste Gedanke in den Sinn und setzte sich dort fest: ein wirklich interessanter Mann. Komisch. Nie zuvor hatte ich das so gesehen. Dann schlich sich Lisa assoziativ heran. War sie noch mit ihm zusammen? Wie ging es ihr? Hatte sie etwas mit Karl?
Tim klingelte Sturm. Mit seiner Fahrradklingel. Es war okay, da ich ihm ja keine Regeln auferlegt hatte.
Ich ging nach draußen und verweigerte ihm auf Distanz das mittlerweile traditionelle französische Begrüßungsküsschen. Der Nachbarn wegen. Wer weiß, was heute Abend wieder bei Karl ankommen würde.
Wie immer war er sehr einfühlsam und spürte, dass dieses erste Treffen in Burgjoss ganz besonders sein würde. Wir mussten nicht über Regeln sprechen. Er verstand sie empathisch.
„Also, Claudia, jetzt geht’s los. Are you prepared?“
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. War ich nicht.
„Okay. Du gibst jetzt folgende Koordinaten in deinen GPS-Empfänger ein.“ Er nannte mir ein paar Zahlen. Ich tippte, und er schaute mir
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