Der stille Schrei
meine Assistentin. Sie hat das Bild geschossen und verweigert mir bis heute die Antwort. Bitte kommen Sie doch in mein Sprechzimmer.“
Einladend zeigte er mir den Weg, ließ mich in einem tiefen Sessel Platz nehmen, in dem ich fast versank, und stellte mir das Glas Wasser auf einen Beistelltisch.
„Was führt Sie zu mir? Was ist Ihr Anliegen?“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute mich an. Sein Blick: ruhig, gelassen, weise. Ich wurde wieder starr vor Angst.
Er lächelte. „Entspannen Sie sich. Trinken Sie erst einen Schluck.“ Zögernd gehorchte ich und führte das Glas an meine Lippen. Der erste Schluck löste meinen Staudamm. „Mein Mann schlägt mich. Er vergewaltigt mich. Er tötet mich, auf Raten.“ Tonlos brach es aus mir heraus.
Schweigend schaute er mich aus seinen gütigen Augen an. In seinem Blick lag alles. Verständnis. Anteilnahme. Tiefe. Die Stille zwischen uns war eine magnetische Form der Verbindung, ein eigenes Universum. Proton und Elektron. Stabilität. Schwingungen. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, dass meine Wunden zu heilen begannen. Ich hätte gehen können. Aber eine andere innere Stimme sagte mir: Nutze diese Gelegenheit. Sprich dich aus. Nimm alles mit, was du brauchst. Es wird nur diesen einen Termin geben.
Also holte ich tief Luft und begann zu sprechen. „Das erste Mal schlug er mich in der Hochzeitsnacht. Davor war er der charmanteste Liebhaber, den man sich nur vorstellen konnte. Er erfüllte mir jeden Wunsch. Einkäufe. Reisen. Konzerte. Im Hotel Atlantic in Hamburg trank er einmal Udo Lindenberg unter den Tisch, den wir dort spätnachts zufällig an der Bar trafen, bis sich dieser bereiterklärte, mir ein Autogramm zu geben. Ich war ganz überrascht: Udo malte mir ein kleines Bild. Es ist wunderschön geworden. Und er schrieb ein paar Zeilen darunter: Pass auf dich auf. Udo.“
Dr. Bring runzelte die Stirn. Ich nickte. „Ja, damals erschloss sich mir der Sinn nicht. Aber vermutlich hatte er meinen Mann verstanden und wollte mich warnen.“
Ich machte eine Pause und dachte nach. Dr. Bring ließ es geschehen. „Wirklich schlimm wurde es erst, als er sich sein Traumhaus im Spessart gebaut hatte, wie er es nannte. Es liegt im Jossgrund, der Region mit den wenigsten Verbrechen im Rhein-Main-Gebiet, wie kürzlich eine Statistik auswies.“
Ein verunglücktes Geräusch kam aus meiner Kehle. Es war wohl der Ansatz eines Lachens, das in sich selbst zusammenfiel.
„Jetzt weiß ich auch, wieso. Als er mich das erste Mal so richtig grün und blau geschlagen hatte, rief ich in meiner Verzweiflung die Polizei an. Sie kam auch. Aber anstatt meine Anzeige aufzunehmen und ihn in Gewahrsam zu nehmen, nahmen sie mich mit. Sie fuhren mich zu einem Arzt. Ein Schulfreund meines Mannes, genau wie der Chef der örtlichen Polizeibehörde. Ich musste mir im Auto noch dreckige Witze anhören, was Männer mit ihren Frauen anstellen dürfen. Das war noch demütigender als die Schläge, die ich zuvor von meinem Mann bekommen hatte.“
Dr. Bring sah mich ausdruckslos an. Nur seine Augen strahlten etwas aus: Verständnis, Mitgefühl, Weisheit. Sie schienen zu sagen: Es ist furchtbar, wie schrecklich Menschen sein können und was sie anderen Menschen antun. Ich nickte. Ja, für ihn als Therapeuten und Arzt waren das sicherlich keine Neuigkeiten, sondern viel zu oft Gehörtes.
Er lächelte, als könne er meine Gedanken lesen. „Soll ich Ihnen einen Tee kochen?“ Er schien meine Antwort zu ahnen und machte sich bereits auf den Weg, fragte auch nicht, welche Sorte ich gern trinken würde.
Ich hörte einige Geräusche, in die ich mich vertiefte und verlor. Ein Zischen und Klappern, Metall auf Porzellan. Wenig später kam er wieder.
„Ich weiß nicht, wie Sie Ihren Tee trinken. Am besten nehmen Sie eine kleine Dosis Milch, wenn Sie keine Eiweiß-allergie haben.“
Schon jetzt konnte ich den Hauch eines Duftes wahrnehmen. Ich folgte seinem Rat und schnüffelte ganz neugierig. „Was ist das für eine Sorte? Es riecht so ... süßlich, würzig?“
„Es ist ein spezieller Kräutertee, den ich mit einigen besonderen Gewürzen mische. Zum Beispiel Kardamom. Ingwer. Sehr gesund und sehr wohlschmeckend.“ Und fast übergangslos: „Erzählen Sie weiter!“
Seine ruhige Art hatte mich in Bann gezogen. Es erschien mir fast unmöglich, weiterzuerzählen. Er wusste doch sowieso schon alles.
Ein hoffnungsvoller Gedanke machte sich leise bemerkbar. Ich wollte etwas verändern. Aber
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