Der stille Schrei
was? Am liebsten würde ich meinem Mann davonlaufen. Doch gleich meldete sich die skeptisch-warnende Stimme: Das würde nicht gehen. Er würde sehr viel Geld investieren, um mich zu finden. Und dann würde er mich endgültig vernichten.
Im Streit dieser beiden Stimmen verlor ich mich erneut. Ich überlegte.
Dr. Bring ließ mir die Zeit und schaue mich ausdruckslos an. Unter seinem Blick lösten sich einige Verknotungen in meinen Gehirnwindungen. Was beschäftigte mich? Ich musste es ihm erzählen.
„Wissen Sie, Dr. Bring, ich habe mich in den letzten Jahren gehen lassen. Von Konsumtempel zu Konzerthalle zum Edelrestaurant, das waren die weitesten Strecken, die ich gegangen bin. Das Ergebnis: den Kopf in den Sand gesteckt, mich betäubt, zu viel gegessen, 17 Kilogramm zugenommen, meine Würde und Achtung vor mir selbst verloren. Damit soll nun Schluss sein.“
„Was ist ihr Ziel?“ Und wieder wartete er geduldig, bis ich meine Antwort gefunden hatte.
Ich brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich möchte zuerst meine Selbstachtung wiedergewinnen. Ja, ich glaube, so muss ich anfangen. Der Rest wird sich dann ergeben. Mein letztes Ziel ist: Ich möchte meinen Mann loswerden.“
Dr. Bring nickte. „Ich habe die Lösung für Sie. Milton Erickson, ein sehr fähiger Therapeut, der in den USA lebte und am 25. März 1980 gestorben ist, hatte mal einen Klienten, der abnehmen wollte. Es war ein ehemaliger Polizist, der früh in den Ruhestand gegangen war und sich dann zu wenig bewegte und zu viel aß. So nahm er zu. Er klagte Dr. Erickson sein Leid. Erickson fragte ihn, wie sein typischer Tag aussah. Der Klient berichtete, dass sein Leben einfach sei. Er wohne in der Großstadt, und rund um seinen Wohnblock gab es an jeder Ecke eine Möglichkeit, alle seine Bedürfnisse zu befriedigen. Round the block war ein Geschäft, in dem er Lebensmittel kaufen konnte, round the block sein Friseur, round the block die Kneipe, in der er sein Bier trank. Der Rat von Erickson war ganz einfach.“
Nach einer längeren Pause, in der er mir tief in die Augen schaute und sich vielleicht fragte, ob ich die Lösung selbst finden würde? Nein, er fragte sich nicht, sondern er wusste, dass ich die Antwort nicht kannte. Also fuhr er fort. „Er sagte: Sie machen alles genau wie bisher.“
Dr. Brings Stimme wurde auf einmal sehr streng. „Nur verbiete ich Ihnen, in all den Geschäften einzukaufen, die Sie bisher aufgesucht haben. Sie suchen sich ein neues Geschäft, einen Block weiter.“
Offensichtlich musste es Dr. Erickson auch so gemacht haben. Wieder eine lange Pause. Dann fuhr Dr. Bring fort.
„Der ehemalige Polizist stutzte einen Moment und ging dann sehr plötzlich, noch die unhöflichen Worte ausstoßend: verdammter Psychiater!“
Ich runzelte die Stirn. Die Botschaft hatte ich nicht verstanden.
Dr. Bring fuhr seelenruhig fort, als hätte er nichts anderes erwartet. „Einige Wochen später kam ein neuer Klient zu Dr. Erickson auf Empfehlung dieses Polizisten. Zur Begrüßung sagte er: Ich soll Ihnen einen Gruß ausrichten und sagen, dass Sie genial sind.“
Ich schmunzelte. „Ich soll mich mehr bewegen?“
„Nicht nur bewegen, ich weiß genau, wie Sie Ihre Ziele erreichen.“
Nach einer bedeutungsvollen Pause, die sich mir nicht wirklich erschloss, die ich aber registrierte, fuhr er fort. „Sie werden ein Lauftraining absolvieren und für den Frankfurt-Marathon trainieren. Hier haben Sie die Adresse eines Lauftrainers, der sehr gute Arbeit leistet. Melden Sie sich bei ihm an. Und genau heute in zwei Monaten können Sie zu einem weiteren Termin kommen.“
Er gab mir eine Visitenkarte und hatte handschriftlich mit Füller auf der Rückseite den nächsten Termin notiert. Dann schwieg er. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es noch irgendetwas zu besprechen gab. Die Botschaft war endgültig. Meine Zweifel meldeten sich. Hatte ich die Geschichte mit dem Polizisten doch nicht richtig kapiert? Konnte die Lösung so einfach sein? Hatte ich mich von meiner Freundin einlullen lassen? War dieser Dr. Bring wirklich ein guter Therapeut?
Etwas verwirrt und verstört stand ich auf und verabschiedete mich.
FRANKFURT
Der Verwirrung folgte die Entwirrung. Aber nur sehr langsam. Mein Auto brachte mich aus Frankfurt heraus. Die Hanauer Landstraße war dicht. Ich nahm gar nichts wahr. Erst Porsche. Dann das Audizentrum. Alles rechts. Der weitere Abstieg im Geschmack: Kentucky Fried Chicken. Kentucky schreit. Was schreit Kentucky?
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