Der Strandlaeufer
darstellte. Während er versuchte, das Ding mittels einer Metallschlinge zu entfernen, die man durch Stromzufuhr erhitzen konnte, um so die Wucherung am Stiel abzubrennen, fiel die Elektrizität des Gerätes aus. Obwohl ich ziemliche Schmerzen hatte, bastelte der Mensch an seinem Apparat herum, schraubte den Stecker auf, ohne Erfolg. Dann hatte er große Mühe die Schlinge wieder vom Polypen abzuziehen. Mir brach der Schweiß aus. Die Zeit verging, ich fühlte mich wie ein Hähnchen, das man auf eine Grillnadel geschoben hatte. Endlich konnte er die Sonde aus dem Darm herausziehen. Er bestellte ein Taxi und ließ mich ins Krankenhaus fahren. Dort landete ich auf einem OP-Tisch. Es war das Krankenhaus, in dem mein Vater wiederholt gewesen und deshalb bekannt war. Die Schwestern und Ärzte schwärmten von ihm, von seiner Erzählkunst, seinem Humor, während wieder die Sonde eingeführt wurde. Diesmal klappte alles besser. Die Operation gelang. Der Arzt zeigte mir das Ding, ein blutiges, hässliches Embryo des Todes. »Höchste Zeit, dass wir den Kerl heraushaben«, sagte er. Hatte mir mein Vater etwa im Nachhinein das Leben gerettet? Wäre er nicht gestorben, hätte ich mich kaum einer solchen Untersuchung und der anschließenden Operation ausgesetzt.
Ich schlief inzwischen auf einer Isomatte. Je leerer die Wohnung wurde, desto leerer wurde auch ich. Bei den Räumarbeiten wurde allzu deutlich, dass sehr viel an dem betont gemütlichen Ambiente meines Elternhauses nur Kulisse gewesen war. Gewiss, kostbare Eichenschränke, nordisches Barock, Petroleumlampen, Meißener Porzellan, Messingwandleuchter, vieles aus Familienbesitz, hatte in dieser Anhäufung eine fast museal anmutende dichte Atmosphäre erzeugt, doch nun kamen die Schimmelflecken, die von Mäusen angenagten Stellen der Bodenbeläge, die schadhaften Tapeten, der Dreck und vieles mehr zu Tage. Es war ein edler Slum, in dem sie gelebt hatten, ramponierte Tagträume, eine depressive Phantasiewelt.
Ich beauftragte eine Spedition, die Sachen, die ich behalten wollte, nach Italien zu bringen. Dann rief ich meinen Verleger an und verabredete einen Termin.
Ein letztes Mal machte ich mich auf den Weg zum Altersheim. Ich wollte mich bedanken für die gute Betreuung, die meinem Vater in seinem letzten Lebensjahr zuteil geworden war. Erika nahm meine Hand. Die mütterliche Wärme, die von ihr ausging, tröstete mich. »Wir haben ihn alle hier sehr gern gehabt«, sagte sie. »Er war ein Ausnahmemensch. Es war alles so interessant, was er erzählte. Es ist wenig wahrscheinlich, dass wir jemals wieder solch einen Kunden bei uns haben. «
Sie sah mich an. Die Hoffnung, die in ihrem Blick lag, bezog ich auf den schmeichelhaften Wunsch, ich möge eines Tages hier als Pflegefall landen.
Ich ging noch einmal die Treppe hoch. Die Tür zum Zimmer elf war angelehnt. Der Raum war leer bis auf das Bett. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte jetzt erst richtig, wie trostlos der Blick auf die gegenüberliegende Häuserwand war.
Ich bestellte ein Taxi und trank in der leeren Küche einen letzten Grog im Stehen. »Besanschot an«, sagte ich laut. Als der Wagen kam, schloss ich das Haus sorgfältig hinter mir ab. Einen Augenblick lang zögerte ich, ob ich noch einmal zum Grab gehen sollte. Doch ich stieg ein und ließ mich zum Bahnhof fahren. Mein Vater war bei mir in Form des dicken Manuskriptes seiner Lebensbeschreibung. Nachdem wir die Kanalbrücke hinter uns hatten, traute ich mich, sie aufzuschlagen und darin zu lesen, zuerst hie und da, punktuell, dann fortlaufend. Sie war im ambitionierten Stil eines Mannes geschrieben, der sich für einen Autor hielt. Das Schlimmste war, dass ich anfangs dachte, ich selbst hätte den Text verfaßt. Es war mein Stil, den er erfolgreich adaptiert hatte. Nur an den seltenen Korrekturen in seiner säuberlichen Handschrift sah man, dass er ihn geschrieben hatte.
Ich las, wie mein Vater den Tod seiner Frau schilderte. Mit dieser unmenschlichen Sachlichkeit, hinter der sich extreme Gefühle verbergen. Es waren fast die gleichen Worte, mit denen er ihn damals am Telefon geschildert hatte. Und ich las ein Kapitel, in dem er seine Geburt schilderte, in einer Weise, die belegte, dass er eigentlich mehr sein wollte als ein Chronist. Einen Satz merkte ich mir sofort: »Mitunter empfing ich Signale von Mutter. Nicht im Takt eines Morsealphabets, aber doch so, als wollte sie mir mitteilen: ›Hier bin ich, mein
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