Der Strandlaeufer
nächsten Morgen machte ich mich allein auf an den Strand. Ich hoffte wie immer, Carla zu begegnen. Weit draußen lag ein Schiff auf Reede. Es kam mir vor wie eine Fata Morgana. Es hatte einen elegant geschwungenen, weißen Rumpf und einen langen, schräg stehenden Schornstein. Ein Oldtimer offensichtlich oder aber der Nachbau einer Dampfyacht vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Vermutlich sollte das Schiff Marconis ›Elettra‹ darstellen.
Ich ging in die Gorillabar. Außer den üblichen Stammgästen gab es auch einen Neuen, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er sah aus wie ein Däne, mit seiner kleinen Nase, seinem schneeweißen Bart und seiner braungebrannten Halbglatze. Er trug ein T-Shirt und Bermudashorts. Seine muskulösen Beine zeigten keinerlei Anzeichen von Krampfadern, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Sie waren von klarem Blau. Von vorne gesehen, glich sein Kopf einem sorgfältig mit den frischen Farben des Lebens bemalten Totenschädel.
Neben dem Neuen saß der Mann mit dem Holzbein. Beide diskutierten miteinander. Ich stellte mich an die Theke und versuchte, etwas von dem Gespräch aufzuschnappen. Offensichtlich ging es um das Filmprojekt.
Franco Celli kam herein und umarmte mich. Wir setzten uns mit unseren Getränken an einen Tisch. »Wir haben schon wieder einen komischen Vogel in unserem Bauer, der hier vielleicht überwintern möchte.« Celli deutete auf den Bärtigen. »Manchmal fange ich an wie Luigi zu denken. Die ganze Erde kommt mir langsam vor wie ein schlecht geführtes Altersheim, das durchs leere All treibt.«
Meine Sachen kamen mit einem LKW. Ich schaffte sie mit Franco Cellis Hilfe in den Turm. Die Standuhr, den Ohrenstuhl, die Aktenordner, die Bilder, die Seekiste mit den Karten, dem Sextanten, dem Crewbeutel, dem Fernglas. Ich ging jetzt jeden Tag für einige Stunden hin, setzte mich in den Ohrenstuhl und las in den Dokumenten. Es war ein wenig wie Geisterbahn fahren. Vor allem galt dies für die Briefe. Meine Mutter schrieb als Anrede in den meisten ihrer Schreiben an meinen Vater nur das eine Wort: »Meiner«. Ja, er gehörte ihr ganz und gar. Sie beschrieb meine Entwicklung als Baby detailliert. Wenn ich Milch aus der Flasche trank, dann tat ich es ihrem Zeugnis nach gierig und mit einem bösen Blick, doch wenn ich an der Brust lag, schlief ich nach drei, vier Schlucken selig ein. Ich hätte in den ersten Tagen die Angewohnheit gehabt, mit gefalteten Händen und einem unsäglich frommen Ausdruck im Kinderbettchen zu liegen, was mir seitens der Schwestern und Ärzte die Bemerkung eintrug, ich würde der-einst sicherlich Priester werden. Ich wurde kein Priester. Ich versuchte später, das Gegenteil zu werden. Jemand, der nicht einer Illusion aufsaß, der kein professioneller Lügner war. Doch dann wurde ich schließlich Schriftsteller und damit genau das, was ich so sehr zu vermeiden versuchte.
Ich traf den Dänen auf dem Klippenweg, der die weiße Stadt auf der Seeseite umrundet. Er sprach mich an und fragte mich nach interessanten Lokalen aus.
»Die Gorillabar kennen Sie ja bereits. Aber kennen Sie auch den ›Verlorenen Anker‹?«
»Nein, klingt interessant. Eine Hafenkneipe?«
»Wenn man so will. Die Fischer treffen sich dort. Aber sie liegt nicht am Hafen, sondern auf dem höchsten Punkt der Stadt. Kommen Sie, ich zeig sie Ihnen.«
Als wir den Platz erreicht hatten es machte mir inzwischen kaum mehr Mühe, ihn zu finden -, gingen wir in die Bar und setzten uns an einen kleinen Tisch im Hintergrund des Raumes. Neben uns spielten einige junge Leute lautstark Tischfußball.
Der Mann bestellte zwei Cuba libre. »Wir wollen einen Film über einen Forscher drehen. Er war ein Genie. Guglielmo Marconi. Ich bin der Regisseur«, sagte er.
»Warum haben Sie nicht bereits im Sommer gedreht?«
»Das Wetter war zu gut. Wir brauchen eine dramatische Atmosphäre für einen diabolischen Helden. Außerdem bin ich unzufrieden mit dem Drehbuch.«
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich weiß einiges über Marconi. Außerdem bin ich Autor. Ich habe auch schon einige Drehbücher verfasst.«
»Ich weiß, dass Sie Schriftsteller sind. Ihre Freunde haben es mir erzählt. Kommen Sie morgen Mittag ins ›La Sirenella‹. Da wohne ich. Hier, meine Karte.«
Er ging, und ich sah ihm nach. »Sie haben etwas Unwirkliches an sich, diese Leute, deren Job es ist, Wirklichkeit zu simulieren«, dachte ich. Am Ende des Platzes,
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