Der Strandlaeufer
tief zu sein. Ich warf einen ängstlichen Blick hinein und erkannte keinen Boden. Wo ging es dort hinab? Eines spürte ich deutlich, was dort in einem Holzkasten von übertriebener Solidität in die Tiefe gesenkt wurde, hatte mit meinem Vater nicht viel zu tun. Ich hatte jetzt Erde ins Grab zu werfen, und ich hatte Angst, in das Loch hineinzufallen, während sich der Deckel öffnete, so dass ich auf die Leiche fiel. Diesmal hatte ich kein rostiges Kinderschäufelchen dabei, das mir Halt gab. Diesmal griff ich mit der bloßen Hand in den kalten Sand und ließ ihn in die Tiefe fallen.
Auch der Hausarzt meines Vaters war gekommen. Sein fester Händedruck war ein glaubwürdiger Ausdruck der Anteilnahme. »Er hat doch ein erfülltes, langes Leben gehabt, trotz seiner Krankheit«, sagte er. Das klang nicht nach Phrase, sondern nach echtem Trost. »Kommen Sie bitte nächste Woche in meine Sprechstunde«, sagte er noch ergänzend.
Der engere Familienkreis, wie es so schön und verfälschend heißt, denn es handelt sich um keinen Kreis, allenfalls um sich kreuzende Linien, versammelte sich nach der Beerdigungszeremonie im Wohnzimmer. Es gab Schnittchen vom Dorfschlachter und eine kräftige Suppe, die, wie man sagt, Tote aufwecken konnte, die aber diesmal in dieser Hinsicht jämmerlich versagte. Alle im Raum schienen sich verlangsamt zu bewegen, wie in Zeitlupe. Manchmal erstarrten die eng beieinanderstehenden Menschengruppen zu Fotografien. Dann blitzte das Licht einer Digitalkamera auf. Jetzt plötzlich vermisste ich ihn, denn da war niemand, der die mit ihren Bier- oder Weingläsern in der Hand herumstehenden Vertreter des Überlebens mit Döntjes und Familiengeschichte unterhielt. Am fröhlichsten war noch der Pastor. Das war verständlich, denn er war kraft seines Amtes eine Art Fremdenführer, der gerade erfolgreich eine arme Seele in die Heimat geleitet hatte.
Mein Alter hatte eine Lücke hinterlassen, zweifellos. Die Gespräche seiner Verwandten streiften hin und wieder diese Tatsache. Aber war es wirklich eine Lücke? Eine Lücke hinterlässt jemand, der zu Lebzeiten eine kompakte Person gewesen ist, fest in seinem Körper, in seinen Ansichten, vielleicht sogar in seinen Träumen. Aber bei ihm war es anders. Er war, so kam es mir wenigstens vor, zu Lebzeiten nie oder nur selten eine wirklich greifbare Person gewesen, auf keinen Fall aber jener Mann von Stahl und Eisen, wie ihn Kollegen einst genannt hatten. Er war flüchtig, widersprüchlich, zuweilen fast eine Art Phantom im Kopf meiner Mutter. Er hinterließ keine Lücke, sondern eher einen diffusen Fleck, ähnlich wie ein Schatten keinen Schatten werfen kann, sondern nur die Richtung vermittelt, aus der das Licht fällt. Und nun befand ich mich mitten in dieser Zone zerfließender Konturen. Scharf umrissen war nur seine Stimme und entsprechend deutlich auch die Stille, die sie jetzt hinterließ. Ich glaube, nur Erika war in der Lage, dies so ähnlich wahrzunehmen wie ich. »Er war ein so liebebedürftiger Mann«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Und er war an allem so interessiert. Wenn man mit ihm zusammen war, lernte man immer ganz viel über die Welt und sich.« Ich nickte und nahm ihre Hand. »Sie haben Recht«, sagte ich. »Sie fehlen mir, seine ewigen bohrenden Fragen: Wer bin ich, warum war es so, wie es war, und was wird sein? Ist alles nur Zufall? Oder ist es doch Schicksal?«
In dieser Nacht schlief ich auf dem beigefarbenen Sofa, auf dem er all die letzten Jahre seinen Mittagsschlaf gehalten hatte, bevor er ins Altenheim umgezogen war. Dieses harte, schmale Sofa war sein Beiboot gewesen, auf dem er mitten im Hafen seiner Wohnung abgelegt hatte, um in Regionen von Zeit und Ort zurückzureisen, in denen er seine großen Momente gehabt hatte. Tristan da Cunha, Fernando de Noronha, die Elephanteninsel. Manchmal, wenn er zum Kühlschrank ging, um seine Reserven an Lakritzbonbons zu checken, war er Shackleton. Ich wusste von ihm, dass er sich am glücklichsten gefühlt hatte, wenn er nachts auf der Brücke stand, in einer Polar- oder Tropennacht zum Beispiel. Den Blick auf den Horizont geheftet, das Kreuz des Südens über sich, das Zodiakallicht als eine geisterhafte Nebelsäule am Firmament. Dann immer wieder ein kurzer Blick zur Skala des Kreiselkompasses, um sicherzustellen, dass der Kurs vom Rudergänger eingehalten wurde. Es herrschte Stille in solchen Momenten. Eine besondere Stille, die gemustert war von den fernen Geräuschen der Schiffsmaschine
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