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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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eingedickten und würfelförmig zusammengepressten Ewigkeit vergingen. Gegen drei Uhr nachmittags ging die Tür auf, und der Arzt erschien. Er schüttelte mir die Hand, als wollte er mir bereits herzliches Beileid wünschen. Dann öffnete er seinen Lederkoffer und begann den Körper meines Vaters zu untersuchen. »Sein Kreislauf ist in Ordnung«, sagte er. »Er hat ein starkes Herz. Das Rasseln ist ganz normal für seinen Zustand. Es wird noch eine Weile andauern. Ich weiß, dass das für Sie schwer erträglich ist. Ich werde Ihrem Vater eine Spritze geben, dann wird er ruhiger schlafen. Ich werde einige Ampullen Morphium dalassen. Die Krankenpflegerin soll ihm jeden Tag die gleiche Dosis geben, wenn sich sein Zustand nicht verändert.«
    Der Arzt ergriff das Handgelenk meines Vaters und spritzte ihm die wasserklare Flüssigkeit. Dann sagte er: »Sie können jetzt nach Hause gehen. Es wird nichts geschehen. Ihr Vater wird eine ruhige Nacht verbringen. Ich komme morgen früh noch einmal vorbei.«
    Das rasselnde Geräusch und das Zucken des Körpers hörten tatsächlich auf. Plötzlich sah ich deutlich ein Bild. Ein junger, braungebrannter Mann, nur bekleidet mit einer Badehose. Er klettert behände den Stamm einer Palme empor, als sei es der Mast eines Schiffes. Als er den Wipfel erreicht hat, wirft er Kokosnüsse herunter. Dann lässt er sich den Stamm hinuntergleiten. Er blutet aus Schürfwunden an der Brust und den Oberschenkeln. Doch scheint ihn dies nicht zu stören. Mit einer Machete spaltet er eine dieser wolligen Nüsse und trinkt ihren weißlichen Saft; dann wirft er die Schalen weg.
    Ich wartete noch eine Weile, und da mein Vater ruhig atmete, ging ich nach Hause. Es war vier Uhr nachmittags. Ich wollte nur eine halbe Stunde fort sein, um etwas Kraft zu schöpfen.
    Ich stand im Wohnzimmer und registrierte, dass die Standuhr stehen geblieben war. Das war mir zu viel an düsterer Symbolik. Ich zog sie auf. Da klingelte das Telefon. »Erika am Apparat. Es tut mir so Leid für Sie. Aber Ihr Vater ist nicht mehr«, sagte sie ruhig.
    Ich trat auf die Straße und blickte zum Fahnenmast hoch. Seine Lieblingsfahne, die Flagge der Kap Hoorniers, die einen Albatros auf blauem Grund zeigt, hing dort schlaff in der nebligen Luft. Ich ertappte mich bei dem absurden Gedanken, sie auf Halbmast zu setzen. Dann begann ich zu rennen. Das feuchte Asphaltband floss mir mit seiner grauen Strömung entgegen, so dass ich kaum vorankam.
    Die Totenhündin stand in der Tür. Ihr mütterlich liebevoller Blick gab mir Kraft. »Ich glaube, Sie waren seine letzte Verbindung zum Leben«, sagte sie leise und legte sanft ihre Hand auf meine Schulter. »Kurz nachdem Sie den Raum verließen, war es vorbei.«
    Ich ging die Treppe hoch. Die Lilien waren verschwunden, die Tür zu seinem Zimmer war wie immer angelehnt. Ich öffnete sie. Er lag im Bett und wirkte so, wie ich ihn verlassen hatte. Aber auf dem Nachttisch war das Grogglas durch eine brennende Kerze ersetzt. Der weiße Lilienstrauß lag in seinen gefalteten, immer noch so kräftig wirkenden Händen.
 

 

Kapitel 34
    M ein Vater war nicht mehr. €›Tot€‹ war kein passendes Wort für sein Verschwinden. Zwei Kreuze mit einer Null dazwischen. Ich empfand es als eine Art Fahnenflucht. Er war schlichtweg einfach abgehauen, von Bord desertiert, hatte sich seiner verdammten Pflicht zu existieren entzogen.
    Ich saß in der Küche und starrte auf den grauen Resopaltisch. Der Mann vom Bestattungsinstitut kam. Er trug einen schwarzen Anzug, aber er hatte keine Leichenbittermiene aufgesetzt, obwohl sein blasses, nichtssagendes Gesicht dafür ideal zu sein schien. Er war sachlich. Wir gingen eine Liste der Leistungen durch. Ich billigte alles, bis auf ein aufwendiges Leichenhemd aus Kunststoff, das zweihundert Euro kosten sollte.
 
    Die Verwandtschaft kam. Wieder lauter Schattenwesen, zwischen denen ich mich unbeholfen bewegte. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass das Ableben meines Vaters auch allen ܜberlebenden etwas von ihrer Lebendigkeit genommen hatte. Am meisten Vitalität ging noch von Erika aus. Sie blickte gerührt in die Runde und registrierte dabei die bewundernden Blicke, die ihr geschenkt wurden.
    Wir gingen zum Friedhof. Ich an der Spitze des Defilees. Niemand hakte mich unter. Aber alle drei, meine Mutter, mein Vater und ihr Sohn, waren neben mir als Schatten der Vergangenheit.
    Viele waren gekommen, der Tote war ein bekannter Mann. Das ausgehobene Grab schien unendlich
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