Der Strandlaeufer
wirklich noch nie gehört. Wie gewöhnlich wiederholt sie ihre Sätze wie ein Papagei, so dass man an ihrem Verstand zweifeln könnte. Dies ist jedoch eine fatale Täuschung. Sie ist keineswegs verwirrt, sondern bei klarstem Verstand. Ihr Verstand ist sogar so klar, dass sich alle Schwächen ihrer Umwelt durch ihn vergrößert abzeichnen wie Kiesel in einem klaren Bach.
Die ständige Wiederholung ihrer Sätze ist eine wahrscheinlich beabsichtigte rhetorische Technik. Sie werden so zu Beschwörungsformeln, die die Verklärung des eigenen Daseins und die Vernichtung allen anderen Daseins zum Ziel haben. Das Andere, das Fremde soll weggeredet werden wie eine Warze, die man bespricht. So einen aufdringlichen, so einen ordinären Klang habe sie noch nie gehört, sagt sie jetzt wieder. Der Vater, dem die Wiederbelebung dieses Klangs zu verdanken ist und der dafür eigentlich Lob verdient, hört das Urteil, ohne sich zu wehren.
Am schlimmsten sind die Teestunden am Nachmittag. Die Mutter liegt wie immer aufgebahrt auf dem alten Ohrenstuhl. Sie hat Strumpfhosen über ihren formlosen Unterleib gezogen. Hände und Unterarme schiebt sie bis über die Ellbogen in diese halb durchsichtigen Futterale hinein. Sie reibt unaufhörlich ihr welkes Beinfleisch und redet dabei. Der Sohn hält sich krampfhaft an den Armlehnen seines Sessels fest, greift innerlich zu Gegenmitteln, versucht, ihre Sätze zu zählen, redet sich ein, ihre Stimme sei eine besondere Art von pervertierter Stille. Doch alle Tricks versagen nach kürzester Zeit. Ihre Stimme setzt sich durch, vor allem, weil viel Verletzendes bei dem ist, was sie sagt. Sie trifft immer wieder zielsicher unter die Gürtellinie, unter die des Sohnes und aller anderen. Sie spürt deren Schwächen wie ein Jagdhund auf und bringt die Betreffenden zur Strecke. Sie verfügt über eine brillante negative Intelligenz. Ihre endlosen Tiraden haben eine akustische Eigenschaft, die ihre quälende Wirkung noch verstärkt: Sie spricht sie schleppend, als ob sie sich wie ein tollwütiger Hund in deren Inhalt verbeißt. Aber fast schlimmer noch ist die Tatsache, dass die einzelnen Wörter ein wenig zeitlich versetzt sind, verrückt gegen den schwarzen Hintergrund der Stille, die vom Vater in seinem Schaukelstuhl ausgeht. Es ist, als ob jedes Wort schon da ist, ehe es ausgesprochen wird. Sprechen und Hören lassen sich nicht zur Deckung bringen. Das führt zu einer Art räumlichem Effekt, zu einem Hall, wie bei der Solarisation eines Fotos, dessen Doppellinien ihm etwas Dreidimensionales geben.
»Keine - andere - Uhr - hat - so - einen - ordinären - Klang«, sagt sie gerade. Der Sohn ertappt sich dabei, wie er nervös mit den Beinen wackelt. Ihm fällt ein, dass er aufstehen kann, um allen Tee nachzuschenken. Sich hoch zu drücken aus dem Sessel erfordert ungeheure Kraft, eine Anstrengung, die ein lebendig Begrabener braucht, um den Sargdeckel von innen zu öffnen. Er geht zum Tisch, zieht der Teekanne die gehäkelte Mütze ab und schenkt seinem Vater ein. Dann geht er zu seiner Mutter. Als er sich über sie beugt, um einzuschenken, riecht er wieder einmal den säuerlichen Geruch von altem Urin. Später gehen sie spazieren, der Vater und der Sohn. Jetzt sind sie Komplizen. Es handelt sich um einen Ausbruch. Das Letzte, was sie hören, ist der schrille Pfiff der Trillerpfeife, die der Vater seiner Frau geschenkt hat, damit sie in einer echten oder eingebildeten Gefahrensituation Hilfe herbeirufen kann.
Der Vater rennt. Sie fliehen durch die eiskalte Winterluft über Waldwege und Fennen. Sie reden kaum, höchstens den einen oder anderen banalen Satz über Heizungskosten und dergleichen. Bei jeder Tierfährte im Schnee bleibt der Vater stehen und identifiziert sie. Wahrscheinlich freut er sich dabei, aber seinem Gesicht sieht man das nicht an. Sein schönes Altmännergesicht ist grau und maskenhaft starr. Er hat es über seine Seele gezogen wie ein Fechter die Korbmaske.
Dann stürmen sie weiter. Habe ich meinen Vater nur gern, weil er nicht wie meine Mutter ist?, denkt der Sohn. Er würde ihm am liebsten seine Freundschaft zeigen, aber der andere hat alle Wege verbarrikadiert. Er geht zum Beispiel zu schnell. Ist es, weil er vor etwas flüchtet oder weil er etwas sucht oder weil er es nicht finden will? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere, noch das dritte. Seine Rastlosigkeit hat keinen Grund außerhalb ihrer selbst. Sein Leben ist, obwohl so voller Abenteuer und Sensationen, seltsam
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