Der Strandlaeufer
über ihre Wangen.
»Sieh dir den Hibiskusstrauch genau an!« Sie schlürft den Rest Tee aus der Tasse und steckt wieder den Finger hinein. »Damit du in Zukunft weißt, wie ein Hibiskus aussieht. Er hat fleischrote Blütenkelche, und es sind noch ein paar dran, obwohl sie nur einmal blühen, kommen hundert neue über Nacht. Der Stamm ist ganz dick. Du kannst ihn sehen, wenn du hineingehst, gleich neben der Klematis, beim Fenster, an dem dein Vater jetzt steht und zu uns hinaussieht. Ja, es waren schwere Zeiten, der Krieg, deine Geburt und dein Vater auf See. Du warst kein einfaches Kind, ganz schön renitent, immer mit dem Kopf durch die Wand, immer mit dem Kopf durch die Wand. Das hast du von deinem Vater.«
Der Sohn schiebt seinen Arm unter den Oberarm der Mutter und zieht sie aus dem Stuhl hoch. »Lass uns hineingehen, du bist schon ganz nass«, sagt er, aber wieder verschluckt ein Donner seine Stimme. Als die Mutter redet, donnert es nicht. »Dieser Frieden! Ich verdanke es ausschließlich deinem Vater, dass ich diesen Frieden genießen kann, diese Natur. Ich glaube, wir sollten jetzt besser hineingehen. Merkst du nicht, dass es zu regnen begonnen hat? Du merkst aber auch gar nichts.«
Sie gehen ganz langsam über den Rasen. Die Tür öffnet sich, und der Vater erscheint. »Da bist du ja«, sagt die Mutter. »Edmund, siehst du, das ist Gedankenübertragung, gerade wollten wir zu dir kommen. Ja, mein Sohn, wir sind von Anfang an eine Einheit gewesen, dein Vater und ich. Es ist ein wunderbares Gefühl, und es wird nicht jedem geschenkt. Siehst du, das da ist der Hibiskus! Siehst du sie, all die großen, fleischroten Kelche, weit geöffnet, und der Stamm ist so kräftig. Hilf mir die Treppe hoch, mein Sohn, jaja, deine Mutter ist alt geworden. Edmund, warum bist du nicht zu uns gekommen? Es war herrlich draußen, die Beleuchtung, das Gewitter. Ich habe unserem Sohn die neue Pflanzordnung erklärt, wo die Teehybriden hinkommen und der blaue Rhododendron. Und ich habe ihm unseren Hibiskus gezeigt. «
Kapitel 23
W as du von deiner Mutter erzählst, gefällt mir sehr«, sagte Carla, nachdem ich ihr den Text vorgelesen hatte. »Sie ist so sensibel, und sie nimmt so viel wahr. Sie kann nichts dafür, dass die anderen so stumpf sind und dass sie darum nicht mehr alles versteht, was um sie herum geschieht. Ich werde sicher auch mal so sein wie sie, wenn ich überhaupt alt werde.«
Carla lag neben mir. Ihre Nähe tat mir gut. Ihr Körper vermittelte mir Geborgenheit. Und er gab mir manchmal das Gefühl, mich selbst zu sehen. Ich beugte mich über den Rand eines Brunnens. In seinem kühlen Wasser spiegelte sich mein Gesicht. »Wie lange bleibst du?«, fragte ich.
»Das Bild muss ganz trocken sein«, sagte sie. »Es dauert eine Weile. Ich habe ein langsam trocknendes Malmittel genommen. « Ich warf Ugo, der verunsichert in seinem Garten stand, ohne sich von der Stelle zu rühren, einen Blick zu. »Trockne möglichst langsam«, flüsterte ich.
Von sich und ihren Plänen erzählte Carla kein Wort. Auf entsprechende Fragen reagierte sie nicht. Wenn ich nicht nachgab und weiter Fragen stellte, ging sie einfach nach oben auf die Plattform und starrte aufs Meer hinaus. Sie kam mir vor wie Isolde, die auf Tristan wartet. Welche Farbe würde das Segel haben? War es weiß oder schwarz? Beim ersten Mal war ich ihr nachgegangen und hatte meine Hand wie tröstend auf ihre Schultern gelegt. Sie hatte sich wütend umgedreht und mich angeherrscht: »Geh hinunter und tu deine Arbeit.«
In diesen Tagen erschienen einige Fremde in der weißen Stadt. Es waren offenbar keine Touristen. Sie trugen keine Freizeitkleidung, sondern schwere schwarze Lederjacken und benahmen sich alles andere als ausgelassen. Luigi tippte auf Immobilienspekulanten, doch Celli wusste es besser: »Sie haben zu lange Haare für Kaufleute. Die haben bestimmt was mit Kunst zu tun.«
Irgendwann war es heraus. Es waren Scouts oder Locationfinder. In der Regionalzeitung erschien ein Artikel, in dem von einem Film die Rede war. Ein Teil der Dreharbeiten sollte in der weißen Stadt stattfinden. Das war nichts Ungewöhnliches. Es gab schon einige Filme, bei denen sie als Kulisse gedient hatte.
Ich füllte unterdessen Seite um Seite mit Beschreibungen einer Vergangenheit, die mir mehr und mehr missfiel, je größer der Abstand wurde, den ich mir durch meine Arbeit zu ihr verschaffte. Carla war meistens oben und malte das Meer. Es war unnatürlich blau.
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