Der Strandlaeufer
»Ultramarin«, erklärte sie. »Der Himmel ist blau, weil er das Meer spiegelt. Die, die meinen, es sei umgekehrt, haben keine Ahnung.«
Sie ließ sich nach wie vor die Texte vorlesen. Sie enthielt sich weitgehend der Kommentare, nur wenn von meiner Mutter die Rede war, ergriff sie fast automatisch Partei für sie. Einmal sagte sie: »Du und dein Vater, ihr seid beide halbe Männer. Schade, dass es deiner Mutter misslang, sie zu einem zusammenzufügen.«
Der Sohn ist wieder einmal auf Besuch bei seinen Eltern. Seine Mutter verfällt jetzt immer schneller. Neulich habe sie, sagt sie, etwas im Mund gehabt. Als sie es hervorholte, waren es zwei Zähne. Sie ist nicht mehr dick, wie all die langen letzten Jahre, die sie zumeist tagsüber auf den Ohrenstuhl gebettet, die aufgedunsenen Beine auf einem Hocker, die Felldecke darüber, das Rumglas neben sich, vor dem Fernseher verbracht hat, den Blick missgünstig durch eine Sonnenbrille auf die Personen geheftet, die dort ihr klägliches Scheindasein vollführten.
Sie schrumpft, wird immer krummer. Doch ihre klein gekrusselten Haare sind immer noch nicht grau. Sie kleben auf der dünnen Haut des Schädels und haben etwas Perückenhaftes. Während ihr Mann schweigt, redet und redet sie wie ein Wasserfall oder eine Sprechpuppe, die jemand ständig bewegt. Sie redet sogar, wenn sie schweigt, denkt der Sohn. Ein reißender Katarakt von leeren Worten, der sich in die Stille gräbt und sie unwirtlich macht. Das Schweigen des Vaters ist wie ein hoffnungsloser Versuch, diesem Redeschwall ein ausreichend großes Sammelbecken zu bieten oder eine Art Drainage. Dabei starrt er die Zimmerdecke an, als könne sie sich irgendwann teilen wie eine dichte Schicht Altokumulus, um einen leeren Himmel freizugeben.
Die Mutter macht wieder einmal alles schlecht. Das Fernsehprogramm, die anderen Leute, die Nachbarn, deren Gewohnheiten, deren Kinder und Kindeskinder. Dieser pausenlose Redeschwall spült alles weg in die Kanalisation einer bösen Welt, in der es nichts mehr zu klären gibt. Sie redet offenbar um ihr Leben. Wie eine Ertrinkende, die wild mit den Armen um sich schlägt und dadurch jegliche Rettung verhindert, wirft sie mit Worten um sich. Hemmungslos verdammt sie die Welt, Gott und die Sterne eingeschlossen, spricht ihr jegliche Daseinsberechtigung ab. Die Philosophie kennt ein einfaches logisches Verfahren, Falsifikation genannt. Es kommt dann zur Anwendung, wenn man die Richtigkeit einer These nicht zu beweisen vermag. Man sucht dann, die Unrichtigkeit aller anderen möglichen Thesen zu beweisen, woraus sich eine Art negativer Beweis der Richtigkeit der eigenen Position ergibt. Die Mutter wendet diese Methode gnadenlos an. Sie falsifiziert ununterbrochen. Da sie nichts zu bieten hat, weder Weisheit noch Wissen, noch Wärme, noch jene Schönheit, die sie einst besaß, da sie intelligent genug ist, dies zu erfassen, mobilisiert sie ihre ganze Energie zu einer Falsifikation aller anderen Lebensund Daseinsformen außerhalb ihrer eigenen, verkommenen Existenz.
Der Vater des Sohnes hat eine ältere Schwester, über achtzig inzwischen, die das Gegenteil seiner Frau ist. Sie ist höchst lebendig. Sie reist sogar bis in den Kaukasus, sie lernt Russisch, sie nimmt Gesangsunterricht. Sie ist klein und sieht aus wie eine Indianersquaw, die bereits ihre ewigen Jagdgründe inspiziert. Diese kinderlose, allein lebende Frau ist ein bevorzugtes Objekt der Hasstiraden der Mutter. Sie empört sich über deren Sturheit, deren missglücktes Leben, deren verblichenen Mann, deren Macken, ihren Gesang. Hundertmal am Tag kippt sie ganze Wortkübel von Unrat über die greise Schwägerin. Ihr Mann hört schweigend zu. Warum protestiert er nicht bei seinem so ausgeprägten Familiensinn, wo es doch um eine geborene Boysen geht? Er sagt nichts. Doch sein Schweigen ist tiefer als gewöhnlich. Er geht in die Küche und repariert die schöne alte Uhr seiner Schwester. Sie schlug nicht mehr, jetzt ist ihre Stimme wieder da, hell und klar und volltönend durchdringt sie den finsteren Gemütsnebel dieses Hauses, in dem die Uhren allesamt dumpf und rasselnd schlagen, als seien sie krank auf der Brust.
Als der Sohn diesmal wie jedes Jahr im Spätwinter bei seinen Eltern eintrifft, gelten die ersten Sätze seiner Mutter dem fremden Klang der Uhr, die sie als Eindringling empfindet. So etwas Ordinäres habe sie noch nie gehört, so einen aufdringlichen, billigen Klang. Nein, nein, so einen ordinären Klang habe sie
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