Der Strandlaeufer
aus, schlägt ihm mit einer weichen, gallertigen Masse ins Gesicht, in der spitze Nadeln verborgen sind. Es ist Grax. Sein Vater in der Ringecke sekundiert. Sein Gesicht ist aschgrau und wie versteinert. Der Sohn geht zu Boden, merkt, wie er das Bewusstsein verliert, wie Schwärze in ihn eindringt, eine Nacht, an deren Himmel es keine Sterne gibt oder besser gesagt, nur einen einzigen Stern. Und der ist schwarz und füllt den ganzen Kosmos aus.
Der Sohn kommt gewöhnlich mit wenig Schlaf aus, in diesen Tagen und Nächten aber schläft er viel. Es hat den Anschein, als zöge er sich in Traumwelten zurück, als böten sie allein ihm Schutz. Er erinnert sich morgens nicht an diese Welten. Er erwacht mit schwerem Kopf, belegter Zunge und saurem Magen, wie aus einer Vollnarkose. Er eilt ins Bad, wagt nicht, sich anzusehen, während er sich die Zähne putzt, denn er fürchtet, es könnte der Blick seiner Mutter sein, der mitleidlos die schlecht geschnittenen Haare, die schiefen Zähne taxiert. »Du bist unästhetisch«, mit diesem Ausdruck hat sie viel operiert in seiner Jugend. Es ist der nämliche Ekel, den er heute vor ihr empfindet. Sie hat ihn ihm damals sich selbst gegenüber eingeimpft.
Der Wetterumschwung hat ihnen tauenden Schnee beschert. Das Ende der Besuchszeit ist gekommen. Als Vater und Sohn wie jeden Tag das Haus zu ihrem Spaziergang verlassen, gehen sie diesmal nicht durch die Einfahrt, sondern sie klettern über den Wall, der den Garten zum Wald und den Feldern hin abschließt. Der obere Teil der Hintertür ist aufgeklappt. Seine Mutter steht dort, die Trillerpfeife im Mund, und winkt ihnen nach.
Diesmal ist es ein Ausbruch zweier Lebenslänglicher. So schnell ist sein Vater noch nie gerannt. Der Sohn hat Mühe, Schritt zu halten. Der Schnee macht andere Geräusche unter ihren Schuhen. Er knirscht nicht, er schmatzt und röchelt. Als sie am westlichen Dorfrand eine Siedlung eng beieinander stehender Häuser durchqueren, gewahren sie einen beleibten Mann, der in einem Vorgarten einen Gartenschlauch mit den Händen hin und her biegt, wohl um ihn geschmeidig zu machen. Er starrt sie an wie Wundertiere, und Vater und Sohn starren zurück. »Ich kenne den Mann«, sagt der Vater. »Er hat mich neulich angesprochen. Er hat behauptet, mit dir Abitur gemacht zu haben.«
Dann übersteigen sie einen Stacheldraht und rennen weiter. »Gehst du noch oft spazieren?«, keucht der Sohn.
»Nein«, sagt der andere knapp. »Obwohl es gut für meinen Kreislauf wäre. Aber deine Mutter hat es nicht gerne, wenn ich nicht im Haus bin.«
Sie hetzen weiter und legen eine große Strecke zurück. Wohin will der Vater? Gibt es da etwas jenseits dieser eintönigen, schneebedeckten Felder, das ihn zu solcher Eile antreibt? Oder ist er nur die Maus im Laufrad der eigenen Ängste und Zwänge?
Der Sohn denkt an jene seltenen, besonderen Spaziergänge in der Kindheit, bei denen sie sich für wenige Stunden einmal wirklich nahe waren, bei denen der Vater einzig dem Kind gehörte. Es gab sie nur einmal im Jahr und auch nicht jedes Jahr. Immer vor der Bescherung an Weihnachten schickte die Mutter ihre Männer aus dem Haus, denn sie war Requisiteur, Regisseur und Intendant dieses Festes in einem, und sie wollte noch einmal ungestört die Bühne inspizieren, hier etwas richten, dort etwas verbessern, Fragen der Beleuchtung, der Farbgebung, ein paar vorzeitig gefallene Tannennadeln entfernen, die Entenbratensoße abschmecken.
Dann liefen Vater und Sohn durch die kalte Winternacht, immer den gleichen Weg, an der Strandpromenade entlang nach Norden, die Große Straße hoch, am Glockenturm vorbei, die Landstraße nach Westen ins Inselinnere, beim Friedhof mit der großen Kirche nach Süden und schließlich immer geradeaus, bis sie wieder ans Meer kamen, schließlich an der Südküste entlang zurück nach Hause, ein 2-Stunden-Marsch über einsame Wege, an Schneewehen vorbei, im eiskalten Ostwind, den Schal um den Hals, die Pudelmütze auf, die Hände in den Manteltaschen, so rannten sie schweigend nebeneinanderher, Schatten und Schatten des Schattens.
Es war zu kalt und zu heilig, um miteinander zu reden. Und dennoch gab es eine intensive stumme Zwiesprache, die sich zuweilen in Blicken und im Deuten der Hände äußerte. Da hinten der Leuchtturm der Nachbarinsel, dort die wenigen verstreuten Lichter von den Warften der Halligen. Dann der warme Flur mit dem roten Läufer, der Lichtschein aus der Wohnungstür, der Duft nach Entenbraten, die
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