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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rinus Spruit
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Zeh und weil wir normale Füße hatten, konnten wir mit solchen Strümpfen nichts anfangen. Mutter ließ Oma daraufhin Topflappen stricken. Große Topflappen. Oma strickte massenweise Topflappen, sie strickte so viele Topflappen, dass Mutter sie auftrennte und ihr die Baumwolle als Knäuel wieder hinlegte.
    Wenn sie nicht strickte, las sie, meistens laut. Ein Buchreichte ihr, denn das, was sie las, hatte sie sofort wieder vergessen. Sie konnte stundenlang eine Postkarte lesen. Zuerst las sie die Vorderseite, dann die Rückseite und wieder die Vorderseite, die Rückseite, alles war immer neu für sie.
    Wir genossen Omas Anwesenheit. Manchmal musste ich sie einfach ein bisschen necken oder aufziehen. Dann setzte ich Vaters Sonntagshut auf, klopfte an ihre Tür und sagte: »Guten Tag, Frau Spruit, ich bin der Pfarrer.« Am Königinnentag setzten wir Oma ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Königin Juliana winkte und Oma winkte zurück. Mit Oma konnte man lachen. Und sie war immer da.
    Oma war wie ein Haustier. Schnurren tat sie zwar nicht, aber viel hätte nicht gefehlt.
     
    Manchmal sah Oma Ratten. Große Ratten. »Schaut«, sagte sie dann, »da ist wieder eine Ratte, eine große Ratte.« Wir schauten, sahen aber keine Ratte. »Schaut, schaut, da läuft schon wieder eine Ratte.«
    Manchmal sah sie draußen einen Mann stehen. Und dieser Mann blieb dort einfach. Ein »Kerl«. »Seht doch, da steht der Kerl immer noch.« Wir widersprachen ihr nicht. Auch wenn sie, meist gegen Abend, nach ihrer Mutter suchte, ließen wir sie gewähren. Schwieriger wurde es, als sie nachts anfing zu rufen. »Jaan, Jaan, Jaaan!« Dann wussten wir nicht, ob sie ihren Mann rief oder ihren Sohn, Opa und Vater hießen beide Jan. Ihrständiges Rufen mitten in der Nacht weckte uns auf. Vater ging dann hinunter, wütend auf Oma, die meist nur verwundert fragte, was er denn wolle. Mitten in der Nacht. Eine halbe Stunde später fing sie wieder an. »Jaaan, Jaaan, Jaaan!« Es nervte meine Schwester und mich, aber wir wollten uns nicht beklagen, schließlich war es ja Oma. Aber Oma brachte nachts immer öfter alles durcheinander. Sie schlüpfte in ihre Kleider, zog ihr Bett ab, suchte nach ihrer Mutter, lief in den Gang und rief unten an der Treppe: »Jaaan, Jaaan, Jaaan! Jaaan, wo bist du?«
     
    Als Oma in ein Altenheim für Demenzkranke in Middelburg aufgenommen wurde, war sie vierundneunzig. Fünf Jahre lang hatte sie in unserem Hinterzimmer gewohnt.
    Eine Woche später besuchte ich sie. Oma war nicht mehr Oma. Sie erkannte mich nicht und war vollkommen verwirrt. Von ihrer seeländischen Tracht war nun nichts mehr übrig. Zum Glück hatten sie in diesem verfluchten Heim noch genug Verstand, ihr die kleine Haube auf dem Kopf zu lassen. Ansonsten trug sie normale Kleidung.
    Eine Woche später besuchte ich sie wieder. Mit Blei in den Schuhen, mit Angst vor dem, was ich antreffen würde.
    Oma saß aufrecht im Bett, ihre Hände umklammerten die Schutzgitter auf beiden Seiten, als säße sie aufeinem Schiff, das jeden Moment untergehen könnte. Ihr Gesicht war rot, sie hatte Fieber.
     
    Es war zehn Tage später. Ich war nach Rotterdam umgezogen, wo ich meinte, den Beruf eines Pflegers erlernen zu müssen. Ich lief in meinem ungewohnten weißen Kittel durch die urologische Abteilung des Gemeindekrankenhauses. Es war Abend. »Herr Spruit, Telefon für Sie.« Es war Mutter. »Oma ist gestorben.«
     
    Oma ist gestorben.
    Oma ist gestorben.
    Oma ist gestorben.

ONKEL BRAM
    Onkel Bram, klein und drahtig, mager von der harten Arbeit, war zu einem Fachmann geworden, der seinesgleichen suchte. Vor allem an schwierigen Ecken und Windungen lieferte er unnachahmliche Beispiele der Reetdachdeckerarbeit. Aber Onkel Bram hatte
fliegende Kenntnisse
, wie Opa es früher einmal genannt hatte. Zuweilen erzählte er die seltsamsten Sachen, über die er dann selbst so lachen musste, dass ihm die Tränen aus den Augen liefen. Vater ärgerte sich darüber und sagte dann: »Junge, mach dich doch nicht so zum Narren!« Für Onkel Bram war das Grund genug, sich noch mehr anzustrengen. Onkel Bram verstand es, Vater zu necken, zu ärgern. Lag es daran, dass Onkel Bram neidisch war, dass Vater Töchter und Söhne hatte und Onkel Bram nur Töchter?
    In den Schulferien begleiteten ihn meine Brüder und ich oft, um beim Dachdecken zu helfen. Ich mochte Onkel Bram und musste oft lachen, wenn er sich so seltsambenahm. Auf der Fähre von Noord-Beveland nach Schouwen-Duiveland habe ich

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