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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rinus Spruit
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so plötzlich Frost geben würde.
    Vater verstaut Schilfrohr in der hundert Meter entfernten Rohrscheune. Das Schilfrohr hat er zusammen mit Onkel Bram in einem Priel unten am Bahndamm bei Arnemuiden geschnitten. In großen, groben Bündeln wurde es nach Hause transportiert, und jetzt ist Vater damit beschäftigt, schöne, kleine makellose Bündel zusammenzustellen. So legt er einen Vorrat an, aus dem er ein ganzes Jahr lang schöpft.
    Ich kann es nicht lassen, versuche vorsichtig, ein Bein von Vaters langer Unterhose zu knicken, aber Mutter sieht es. »Nein, lass das«, ruft sie, »du machst sie kaputt!« Sie nimmt die Wäsche von der Leine, legt die langen Unterhosen aufeinander und nimmt sie unter dem Arm mit ins Haus.
    Da kommt Vater angeradelt. Bevor er hineingeht, betrachtet er lange Zeit den Himmel, er scheint zufrieden mit dem plötzlich eingetretenen Frost. In der Ferne fliegt hoch am Himmel eine Gruppe von Gänsen in einem großen V.   Wenn man genau hinhört, vernimmt man ihr Schnattern.
    »Frostgänse«, sagt Vater. »Der Frost wird wohl noch eine Weile anhalten.« Vater freut sich darüber. Dann kann er über das Eis laufen und versinkt nicht mehr im Schlamm, das macht das Schilfrohrschneiden wesentlich leichter.
    Vater geht ins Haus, ich schaue noch einmal zum Himmel. In der Ferne, noch sehr weit weg, sehe ich wieder Gänse heranfliegen und alle fliegen in einem V.
    »Rinus! Essen!«, höre ich Mutter rufen. Ich gehe hinein. Vater sitzt schon mit gefalteten Händen vor seinem Teller, er will beten, denn er hat Hunger. Während Vater das Vaterunser über unsere Teller hinweg spricht, denke ich an die Gänse und daran, wie klug mein Vater doch ist.

ZU GESCHEIT ZUM REETDACHDECKEN
    »Die jungen Reetdachdecker!«, »Deine Nachfolger!«, sagten die Bauern lachend zu Vater, wenn meine Brüder und ich als Kinder mitgehen durften zum Dachdecken und Vater halfen, die Schilfrohre nach oben zu schleppen. Dann strahlte Vater vor Stolz. Aber als wir in die letzte Klasse der Volksschule gingen, wurde klar, dass aus dem Reetdachdecken nicht viel werden würde. Wir sollten etwas Richtiges lernen, darin lag die Zukunft. Wir waren zu gescheit zum Reetdachdecken. Onkel Bram musste Vater natürlich damit necken. Wenn Vater mit einer schwierigen Arbeit beschäftigt war, sagte er: »Du hast nicht viel von deinen Kindern.« Solche Sprüche bedrückten Vater. Wenn er nach einem langen Arbeitstag abends nach Hause kam und mit dem Fahrrad am Küchenfenster vorbeifuhr, schaute er mit einem mürrischen, vorwurfsvollen Blick herein. Er arbeitete allein, musste ganz allein das Geld für eine große Familie verdienen. Ob wir wüssten, wasArbeiten hieß? Und wenn er dann, dunkel vom Staub und mit einem missvergnügten Blick in die Küche kam, verstand Mutter seine Wut und sein Selbstmitleid. Dann füllte sie eine Schüssel mit angenehm warmem Wasser und fing an, Vater zu waschen. Dabei erzählte sie von den guten Noten, die wir aus der Schule mitbrachten, und dass der Doktor und der Pfarrer auch gesagt hatten, es wäre schade, wenn wir nicht weiterlernen dürften. Und wenn Vater dann eine Spur hellhäutiger geworden war, wurde er auch etwas milder. Und wenn er kurze Zeit später vor einem Teller mit warmem Essen saß und seine Gabel über den Teller tanzen ließ, um sie dann voll beladen zu seinem Mund zu führen, konnte er wieder lachen und erzählen, was er tagsüber erlebt hatte. Geschichten von guten und von schlechten Bauern. Gute Bauern waren solche, bei denen man Kaffee bekam, schlechte Bauern jene, die einen nicht aus den Augen ließen und dauernd fragten, ob die Arbeit morgen fertig sei, während sie doch noch mindestens eine Woche dauern würde. An diesem Tag hatte er bei einem guten Bauern gearbeitet, er hatte in der Küche Kaffee trinken dürfen und die Bäuerin hatte sogar Pfannkuchen gebacken. Vater hatte sich vor einen Teller gesetzt, auf dem ein großer Pfannkuchen lag, seine Mütze ins Gesicht gezogen und still gebetet. »Ich dachte, am besten bete ich lange«, sagte Vater, »sie waren so verdammt reformiert.« Als er seine Mütze wieder hochschob und die Augen aufmachte, warder Pfannkuchen verschwunden. Es war der Stuhl der Magd, auf den er sich gesetzt hatte. Reetdachdecker bekamen keine Pfannkuchen.

DIE TRINKFLASCHE
    Obwohl ich kein Reetdachdecker werden würde, wollte ich trotzdem das Handwerk erlernen, ich wollte Reetdächer decken können. Ich versuchte, bei Vater und Onkel Bram die Handwerkskunst abzuschauen,

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