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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rinus Spruit
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aber nur mit Schauen war es nicht getan, ich musste es selbst machen, und Vater sollte mir dabei helfen. Ich bat ihn darum, als ich oben auf dem Dach neben ihm saß. »Jetzt nicht«, sagte er, »hol mal ein paar Bündel Rohr für mich.« Mit fünf, sechs Bündeln Schilfrohr auf der Schulter kletterte ich die Leitern hinauf, stapfte von Dachschemeln auf kleinere Leitern, bis ich bei Vater ankam, und ließ die Schilfrohrbündel vor ihm fallen. »Tüchtiger Junge«, sagte Vater. So konnte er weiterarbeiten. »Jetzt noch ein Bündel feines Rohr«, sagte Vater. »Ganz feines. Und meine Trinkflasche. Ich hab Durst.« Ich suchte ein Bündel allerfeinstes Schilfrohr zusammen und holte seine Trinkflasche aus Plastik mit dem kalten Tee, den Mutter in der Früh zubereitet hatte.
    »Es gibt nichts Besseres gegen Durst als kalten Tee«, sagte Vater.
    Ich brachte alles hinauf. Seine Kneifzange, noch ein feines Rohr, ein Bündel Weidenruten und Schilfrohrbündel, viele Schilfrohrbündel.
    Ich wollte Reetdachdecken lernen, aber Vater sagte immer: »Jetzt nicht.« Und so lernte ich es nie.

MITTAGSPAUSE
    Vater ist vom Dach heruntergekommen. In der Scheune macht er seine Mittagspause, zusammen mit zwei Knechten. Sie sitzen neben dem Kuhstall. Dort stehen ein paar Stiere, die so heftig an der Kette zerren, dass die Scheune dadurch zu zittern scheint.
    Aus seinem Brotsack holt Vater einen Stapel Brote, die in ein Tuch eingeschlagen sind. Er gießt aus seiner Thermosflasche Kaffee in einen Becher. Dann lässt er seine Mütze ins Gesicht rutschen und spricht lautlos ein Gebet, schiebt die Mütze wieder zurück, nimmt ein Brot und beißt hinein, dreimal schnell hintereinander, erst dann fängt er an zu kauen.
    Vater und die Knechte sprechen die gleiche Sprache. Buchstäblich und im übertragenen Sinn. Die Sprache des seeländischen Lehmbodens, die Sprache von Wetter und Wind, vom Kampf um das Überleben. Knechte und Reetdachdecker, beide sind von den Bauern abhängig. Das verbindet.
    Vater erzählt und die Knechte hängen an seinen Lippen. Denn erzählen kann Vater wie kein Zweiter. Von einem alten Knecht erzählt Vater. Für einen Hungerlohn hatte der Mann sich jahrelang für den Bauern geschunden. »Es war ein Scheißbauer«, sagt Vater. Als der Knecht krumm und abgearbeitet war, wurde er vom Bauern entlassen. An seinem letzten Arbeitstag sagte der Bauer: »Komm mal rein, ich habe noch etwas für dich.« Der arme Knecht glaubte das Unglaubliche, ihm wurde innerlich ganz warm. Hatte der Bauer vielleicht doch ein Herz und rückte jetzt ein schönes Trinkgeld heraus? »Wisst ihr, was er bekam?«, sagte Vater. »Ein Foto vom Bauernhof.« Die Knechte lachen und Vater lacht auch.
    Die Mittagspause ist vorbei. Vater lässt die Mütze wieder ins Gesicht rutschen, für ein Dankgebet. Dann schraubt er die Thermosflasche zu, wickelt die übrig gebliebenen Brote wieder in das Tuch und legt sie in den Brotsack. Er zieht seine Knieschoner über. Das sind große Lederlappen, um seine Knie zu schützen, hergestellt vom Schuhmacher in ’s-Heerenhoek. Vater befestigt sie mit einem Riemchen unter und über dem Knie.
    Bevor er aufs Dach klettert, bleibt er unten kurz vor der Leiter stehen. Er schaut hinauf, begutachtet seine Arbeit. Wie weit ist er schon? Er inspiziert das Reetdach. Gibt es noch Löcher, schlechte Stellen? Dann bückt er sich, nimmt ein paar Schilfrohrbündel und lädt sie sich auf die Schulter. Vater klettert die Leiter hoch.

ALLES, WAS ODEM HAT
    Mit seinen Händen, seinen wichtigsten Werkzeugen, seinen großen Reetdachdeckerhänden, deren Nägel er nie zu schneiden brauchte, weil sie durch die Arbeit mit dem Schilfrohr von allein kurz blieben, musste Vater ganz allein für seine Frau und die fünf Kinder das Geld verdienen. Langsam, aber sicher hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass wenigstens einer seiner Söhne Reetdachdecker werden würde. Seit Generationen waren seine Vorfahren abwechselnd Stroh- oder Reetdachdecker gewesen. War dies nun das Ende? Immer noch kam es vor, dass Vater nach einem schweren Arbeitstag mit düsteren Blicken in die Küche schaute, wenn er mit dem Fahrrad am Fenster vorbeifuhr. Ob wir wohl wüssten, was Arbeiten hieß?
     
    Ich war Krankenpfleger geworden. In der großen Stadt Rotterdam arbeitete ich im fünften Stock des akademischen Krankenhauses Dijkzigt, in der geschlossenenAbteilung der Psychiatrie. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich endlose Autoschlangen in den Maastunnel hineinfahren und

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