Der Strom, der uns traegt
einmal erlebt, wie Onkel Bram mit seinen Späßen und Faxen eine ganze Gruppe Arbeiter unterhielt, wie ein waschechter Kabarettist. Sie standen im Kreis um ihn herum. Vater genierte sich deshalb und hielt sich ein wenig abseits, trotzdem konnte er es nicht lassen, Onkel Bram zuzurufen: »Junge, mach dich doch nicht so zum Narren!« Sofort fing Onkel Bram an, Vater in seinen Auftritt einzubeziehen und auf seine Kosten Witze zu machen.
Vater und Bram verstanden sich nicht besonders gut, mussten aber zusammenarbeiten. Schließlich waren sie beide nach Opas und Onkel Meriens Tod die Firma Gebr. Spruit, Reetdachdeckerei in Nieuwdorp. Sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.
Gegen Ende seines arbeitsamen Lebens fing Onkel Bram an, unter ernsten Stimmungsschwankungen zu leiden. Monatelang war er ausgelassen, getrieben und hemmungslos, dann geriet er in eine Periode tiefer Niedergeschlagenheit. Diese Stimmungsschwankungen wurden intensiver und folgten einander in immer kürzeren Abständen. In seinen depressiven Phasen saß er zusammengekauert da, blass, mit ineinandergelegten Händen. Er sprach fast nicht und beantwortete Fragen höchstens mit kaum vernehmbarer Stimme. Er ging zwar mit Vater zusammen zum Dachdecken, sah aber aus wie ein lebendiger Leichnam. »Er tut sein Bestes«,sagte Vater, »aber es gelingt ihm nichts. Es ist, als hätte ich heute einen toten Fisch mitgenommen.«
Dann wieder konnte es passieren, dass er morgens um fünf laut bei uns an die Tür klopfte, um Vater zu wecken. Schließlich wartete ja die Arbeit! Das war dann der Beginn einer monatelangen manischen Periode. Treppen stieg er nicht mehr langsam hinauf, sondern er rannte. Oben angelangt, rannte er sofort wieder hinunter, weil er unten jemanden stehen sah, dem er etwas erzählen wollte. Er sprach alle Leute an, gönnte sich keine Zeit zum Essen und war so chaotisch und getrieben, dass er trotz seiner überbordenden Energie mit der Arbeit kaum vorankam. Er litt an einem Zuviel an Arbeitslust, es konnte geschehen, dass er, weil er seinem Wecker nicht traute, mitten in der Nacht ins Dorf radelte, um auf der Turmuhr nachzuschauen, wie spät es war. War es wirklich noch nicht Zeit, aufzustehen und arbeiten zu gehen?
Onkel Bram wurde in ein Krankenhaus eingewiesen, wo er monatelang gepflegt wurde. Als er entlassen wurde, war er geheilt, aber Onkel Bram war nicht mehr er selbst. Das Feuer war weg, die Seele und die Begeisterung waren ihm verloren gegangen. Mit seiner Arbeitskraft war es nicht mehr weit her, er quälte sich bis zur Rente weiter und zog dann mit seiner Frau in ein Altersheim.
Sein Leben lang hatte Onkel Bram Tabak gekaut und dieser Angewohnheit blieb er auch im Altersheim treu.Seine ausgekauten Prieme legte er immer irgendwohin. Auf der Fensterbank, auf einer Stuhllehne, auf jedem für Onkel Bram leicht erreichbaren Platz konnte man auf einen ausgekauten Priem stoßen. Die Heimleiterin war nicht gerade glücklich darüber. Onkel Bram schaffte es nicht, seine Angewohnheit aufzugeben, und wurde daher zum Opfer seiner eigenen Prieme, denn die Heimleiterin war der Meinung, Ordnung und Sauberkeit in ihrem Heim seien wichtiger als Onkel Brams Wohlbefinden. Er wurde in ein Heim für geistig behinderte Senioren überstellt. Ich besuchte ihn dort regelmäßig. Nie, ohne ein Päckchen Rode-Ster-Priemtabak mitzubringen.
Im November 1990 erfuhr ich, dass der Zustand von Onkel Bram, inzwischen achtundachtzig Jahre alt, sich rasch verschlechterte. Ich besuchte ihn und fand ihn in einem komaähnlichen Zustand vor. Ich redete mit ihm, aber er antwortete nicht. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass er mich hörte und verstand. Ich nahm seine Hand in meine. Seine harten Reetdachdeckerhände, die früher wie die Hände meines Vaters eher Tierpranken geglichen hatten, waren zart und weich geworden.
Ich war zu spät gekommen und nahm es mir übel. »Ich hätte eher kommen sollen«, sagte ich seufzend zu einer Schwester, die das Krankenzimmer betrat. »Warum haben Sie es denn dann nicht gemacht?«, fragte sie mitleidlos. Am Tag nach meinem Besuch starb Onkel Bram. Er wurde auf dem Friedhof in Nieuwdorp beerdigt,wo auch Onkel Merien, Opa und Oma ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Mein Onkel Bram, der herausragende Reetdachdecker, manchmal mit
fliegenden Kenntnissen
, war nicht mehr.
FROSTGÄNSE
Ich bin acht Jahre alt und die langen Unterhosen von Vater hängen steif gefroren an der Leine, Mutter hat nicht wissen können, dass es
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