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Der Strom, der uns traegt

Der Strom, der uns traegt

Titel: Der Strom, der uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rinus Spruit
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herauskommen. Tausende von Autofahrern jeden Tag, die meinten, auf der anderen Seite des Maas wäre es besser. Die Patienten liefen ziellos im Gang auf und ab, was konnten sie sonst tun. Wer nicht schon verrückt war, wurde es spätestens hier. Wir, die Ärzte und Pfleger, trugen weiße Kittel, um deutlich zu machen, dass wir gesund waren und sie nicht. Die Aufgabe der Patienten war es, Symptome zu zeigen, und zwar genau so, wie sie in den Lehrbüchern standen, damit wir nicht durcheinandergerieten.
     
    Ab und zu begleitete ich Vater noch zum Reetdachdecken. Unsicher und voller Angst, ich könnte hinunterfallen, brachte ich Bündel mit Schilfrohr hinauf und Vater sagte tatsächlich manchmal noch »tüchtiger Junge«, wenn ich sie vor ihm fallen ließ.
     
    Onkel Bram hatte aufgehört zu arbeiten, Vater war schon fast sechzig und führte nun ganz allein die Reetdachdeckerei weiter. Aber er fing an, über Kurzatmigkeit zu klagen. Er merkte es, wenn er die Leiter hochstieg. Der Hausarzt sagte, Vater solle aufhören zu rauchen, aber Vater war der Meinung, dass der Doktor das nicht von ihm verlangen könne. Eine Zigarette oder eine Pfeife anzuzünden war eine Wohltat, umso mehr, wenn man, wie Vater, so hart arbeiten musste, bei Windund Wetter. Das wollte ihm der Doktor doch nicht verbieten? »Spruit«, sagte der Doktor, »wenn du Krebs bekommst, bin nicht ich es, der sterben wird.« Diese Aussage beeindruckte Vater so sehr, dass er danach weder eine Pfeife noch eine Zigarette anrührte.
    Aber seine Kurzatmigkeit blieb. Auch in der Kirche merkte er es beim Singen von Psalmen und Liedern, er konnte nicht mehr so leicht drauflosschmettern wie früher. Mir fiel das bekannte Lied ein:
Alles, was Odem hat, lobet den Herrn
. Wie soll das denn mit Menschen gehen, die wenig Odem haben? Am Küchentisch demonstrierte Vater uns seine Kurzatmigkeit. Mit einigem Gespür für Dramatik schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Was wird das denn noch werden«, sagte er.
    Es stellte sich heraus, dass Vater an Lungenfibrose litt, einer progressiven Lungenerkrankung, bei der sich das Lungengewebe langsam, aber sicher in nutzloses Bindegewebe verwandelt.
    Ohne Behandlung würde Vater irgendwann keine Lungen mehr haben. Vater wurde operiert und musste fortan sein ganzes Leben lang Cortison nehmen, um den Krankheitsprozess zu stoppen oder zu verlangsamen.
    Odem oder nicht, Luft oder keine Luft, Vater arbeitete weiter. In seinem V W-Käfer , zunächst mit Dachgepäckträger, später mit einem Anhänger, fuhr er zu guten Bauern und zu schlechten Bauern, um ihre Reetdächerzu reparieren oder zu erneuern. Sogar nach seiner Pensionierung machte er weiter. Man konnte einen Bauern doch nicht mit einem Loch im Dach sitzen lassen, nicht wahr?

DER LANGE KEES
    Wir stehen vor dem Bauernhof des Langen Kees. Der Reetdachdecker und sein jüngster Sohn. Der Reetdachdecker ist fünfundsiebzig Jahre alt und schon ziemlich verbraucht. Der Sohn ist vierzig Jahre alt und weiß noch immer nicht, was er eigentlich will im Leben. Vater will ein paar Reparaturen am Dach ausführen und ich habe ihn begleitet, um ihm zur Hand zu gehen. Der Lange Kees ist schon längst tot, der Hof wird jetzt von einem anderen Bauern bewirtschaftet, aber für uns bleibt er der Bauernhof des Langen Kees. Unten am Reetdach gibt es einige schadhafte Stellen, es ist ziemlich einfach. »Die Spatzen haben es kaputt gemacht«, sagt Vater. Ich gebe ihm einige Schilfrohrbündel, Vater repariert das Dach einwandfrei, der Bauer kann zufrieden sein.
    Als wir wieder unten stehen, deutet Vater auf den alten Teich. Eine alte Tränke für das Vieh. »Früher«, sagte Vater, »war dieser Teich voller Aale. Der Lange Kees zog seine Hose aus, stieg in der Unterhose ins Wasser,mit einer Sichel in der Hand. Er schaute ins Wasser und sah die Aale schwimmen. Plötzlich holte er mit der Sichel aus und warf einen Aal aus dem Wasser. Seine Mutter wartete am Rand und legte die Aale in einen Eimer. »An so einer Sichel«, sagt Vater, »sitzen ganz feine Zähnchen, daran bleibt der Aal hängen.«
    Wir sind fertig und wollen nach Hause gehen, Vater wirft noch einen Blick nach oben und kontrolliert seine Arbeit. Er entdeckt, dass sich ganz oben am Dachfirst, in der linken Ecke, ein bisschen Schilf gelockert hat. »Dort sitzt ein Draht nicht mehr fest«, sagt Vater, »wenn ich jetzt nichts mache, lockert sich das Schilf weiter und fällt herunter.« Er zögert. »Traust du dir das wirklich zu?«, frage

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