Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
brummte Tiresias, »es gibt keine nebensächlichen Geschichten. Alles hängt zusammen.
    Rüttelt man irgendwo, rüttelt man am Ganzen. Pannychis«, schüttelte er den Kopf, »warum mußtest Du mit Deinem Orakel die Wahrheit erfinden! Ohne Dein Orakel hätte Ödipus Iokaste nicht geheiratet. Er wäre jetzt ein braver König von Korinth.
    Aber ich will Dich nicht anklagen. Die größte Schuld trage ich.
    Ödipus tötete seinen Vater, gut, kann vorkommen, er beschlief seine Mutter, na und? Aber daß alles so exemplarisch ans Tageslicht kommen mußte, ist das Katastrophale. Dieses verma-ledeite letzte Orakel auf Grund dieser ewigen Pest! Statt einer anständigen Kanalisation mußte wieder einmal ein Orakel her.

    119

    Dabei war ich im Bilde, Iokaste hatte mir alles gebeichtet.
    Ich wußte, wer der wirkliche Vater des Ödipus war: ein unbedeutender Gardeoffizier. Ich wußte, wen er geheiratet hatte: seine Mutter. Nun gut, überlegte ich, jetzt gilt es, Ordnung zu schaffen. Inzest hin oder her, Ödipus und Iokaste haben im-merhin vier Kinder, da galt es eine Ehe zu retten. Der einzige, der ihr noch gefährlich werden konnte, war der kreuzehrliche Kreon, der treu zu seiner Schwester und zu seinem Schwager hielt, doch käme er dahinter, daß sein Schwager sein Neffe und die Kinder seines Schwagers seine seinen Neffen gleichgesetz-ten Neffen – dem wäre seine Weltanschauung nicht gewachsen, er würde Ödipus stürzen, allein aus Treue zum Sittenge-setz. Wir würden wie in Sparta den totalen Staat bekommen, Blutsuppen, die anomalen Kinder liquidiert, tägliches Exerzie-ren, Heldentum als Bürgerpflicht, und so inszenierte ich damals die größte Dummheit meines Lebens: Ich war überzeugt, Kreon hätte Laios damals im Engpaß zwischen Delphi und Daulis umgebracht, um selbst König zu werden, aus Treue natürlich, diesmal zu seiner Schwester, deren Sohn er rächen wollte, da er ja glauben mußte, der ausgesetzte Ödipus sei ein Sohn des Laios gewesen, vermochte sich Kreons simples Gemüt einen Ehebruch doch einfach nicht vorzustellen; und das alles kombinierte ich bloß, weil mir Iokaste verschwieg, daß Ödipus Laios getötet hatte. Denn ich glaube, daß sie es wußte. Ich bin sicher, daß Ödipus ihr den Vorfall im Engpaß zwischen Delphi und Daulis erzählt hat und daß sie nur so tat, als wisse sie nicht, wem Laios zum Opfer gefallen war. Iokaste muß es sofort erraten haben.
    Warum, Pannychis, sagen die Menschen nur die ungefähre Wahrheit, als ob es bei der Wahrheit nicht vor allem auf die Details ankomme? Vielleicht weil die Menschen selbst nur etwas Ungefähres sind. Diese verfluchte Ungenauigkeit. In diesem Falle schlich sie sich wohl nur deshalb ein, weil Iokaste es einfach vergaß, weil der Tod des Laios sie nichts anging, sie 120

    überging eine Lappalie, weiter nichts, aber eine Lappalie, die mir die Augen geöffnet und mich gehindert hätte, den Verdacht, der Mörder des Laios zu sein, auf Ödipus zu lenken, ich hätte dich orakeln lassen: Apollo befiehlt, eine Kanalisation zu bauen, und Ödipus wäre immer noch König von Theben, Iokaste immer noch Königin. Statt dessen? Jetzt herrscht der treue Kreon auf der Kadmeia und errichtet seinen totalen Staat.
    Was ich vermeiden wollte, ist eingetroffen. Steigen wir hinab, Pannychis.«
    Die Alte blickte zum offenen Hauptportal. Das Rechteck schimmerte hell durch den roten Dampf, eine violette Fläche, die sich verbreiterte, auf der ein undeutlicher Knäuel erschien, der schärfer, gelb, schließlich zu Löwinnen wurde, die einen Fleischklumpen zerrissen; dann würgten die Löwinnen das Verschlungene wieder heraus, ihren Tatzen entwand sich ein menschlicher Leib, Stoffetzen wuchsen zusammen, die Löwinnen wichen zurück, und im Portal stand eine Frau im weißen Gewände einer Priesterin.
    »Ich hätte nie Löwinnen zähmen sollen«, sagte sie.
    »Es tut mir leid«, sagte Tiresias, »dein Ende war wirklich schrecklich.«
    »Sah nur so aus«, begütigte die Sphinx, »man ärgert sich so, daß man nichts spürt. Aber nun, da alles vorüber ist und ihr beiden bald auch nur Schatten sein werdet, die Pythia hier, Tiresias bei der Quelle Tilphussa und gleichzeitig in dieser Höhle, sollt ihr die Wahrheit erfahren. Bei Hermes, diese Zugluft!« Sie raffte ihr dünnes, durchsichtiges Gewand zusammen.
    »Du hast dich immer gewundert, Tiresias«, fuhr sie fort,
    »warum ich mit meinen Löwinnen Theben belagert habe. Nun, mein Vater war nicht der, für den er sich ausgab und für

Weitere Kostenlose Bücher