Der Sturz - Erzählungen
der korinthische Hirte statt den Sohn der Sphinx – falls es der Sohn der Sphinx war – der Königin Merope seinen Sohn ausgeliefert hat, nachdem er ihm ebenfalls die Fersen durchbohrt und den echten Ödipus, der ja auch nicht der echte war, den wilden Tieren ausgesetzt hatte, oder ob Merope den dritten Ödipus nicht ins Meer geworfen hat, um ihren eigenen Sohn, den sie heimlich geboren – womöglich auch von einem Gardeoffizier –, dem treuherzigen Polybos als vierten Ödipus zu präsentieren? Die Wahrheit ist nur insofern, als wir sie in Ruhe lassen.
Vergiß die alten Geschichten, Pannychis, sie sind unwichtig, wir sind in all dem wüsten Durcheinander die Hauptpersonen.
128
Wir befanden uns beide derselben ungeheuerlichen Wirklichkeit gegenüber, die ebenso undurchschaubar ist wie der Mensch, der sie herbeiführt. Möglich, die Götter, gäbe es sie, hätten außerhalb dieses gigantischen Knäuels von phantasti-schen Fakten, die, ineinander verstrickt, die unverschämtesten Zufälle bewirken, einen gewissen, wenn auch oberflächlichen Überblick, während wir Sterblichen, die sich inmitten dieses heillosen Wirrwarrs befinden, hilflos darin herumtappen. Wir beide hofften, mit unseren Orakeln einen zaghaften Anschein von Ordnung, die zarte Ahnung einer Gesetzmäßigkeit in die trübe, geile und oft blutige Flut der Ereignisse zu bringen, die auf uns zuschoß und uns mit sich riß, gerade weil wir sie –
wenn auch nur ein wenig – einzudämmen versuchten.
Du orakeltest mit Phantasie, mit Laune, mit Übermut, ja mit einer geradezu respektlosen Frechheit, kurz: mit lästerlichem Witz. Ich ließ mit kühler Überlegung orakeln, mit unbestechlicher Logik, auch kurz: mit Vernunft. Zugegeben, dein Orakel war ein Volltreffer. Wäre ich ein Mathematiker, könnte ich dir genau sagen, wie unwahrscheinlich die Wahrscheinlichkeit war, daß dein Orakel zutreffen würde: Sie war phantastisch unwahrscheinlich, unendlich unwahrscheinlich. Aber dein unwahrscheinliches Orakel traf ein, während meine wahr-scheinlichen Orakel, vernünftig abgegeben, in der Absicht, Politik zu machen und die Welt im Sinne der Vernunft zu ändern, ins Nichts verpufften. Ich Tor. Ich setzte mit meiner Vernunft eine Kette von Ursache und Wirkungen frei, die das Gegenteil von dem bewirkte, was ich beabsichtigte. Und dann kamst du, ebenso töricht wie ich, mit deiner blühenden Unbe-fangenheit, einfach drauflos und möglichst boshaft zu orakeln, aus welchen Gründen, spielt ja längst keine Rolle mehr, auch wem gegenüber, war dir gleichgültig; zufällig orakeltest du denn auch einmal einem blassen, humpelnden Jüngling namens Ödipus gegenüber. Was nützt es dir, daß du ins Schwarze getroffen hast und ich mich irrte? Der Schaden, den wir beide 129
angerichtet haben, ist gleichermaßen ungeheuerlich. Wirf deinen Dreifuß weg, Pythia, in die Erdspalte mit dir, auch ich muß ins Grab, die Quelle Tilphussa hat ihr Werk getan. Lebe wohl, Pannychis, aber glaube nicht, daß wir uns entkommen.
So wie ich, der die Welt seiner Vernunft unterwerfen wollte, in dieser feuchten Höhle mit dir konfrontiert worden bin, die du die Welt mit deiner Phantasie zu bezwingen versuchtest, so werden auf ewige Zeiten jene, für welche die Welt eine Ordnung, solchen gegenüberstehen, für welche die Welt ein Ungeheuer ist. Die einen werden die Welt für kritisierbar halten, die anderen nehmen sie hin. Die einen werden die Welt für so veränderbar halten, wie man einem Stein mit einem Meißel eine bestimmte Form zu geben vermag, die anderen werden zu bedenken geben, daß sich die Welt samt ihrer Undurchschau-barkeit verändere, wie ein Ungeheuer, das immer neue Fratzen annimmt, und daß die Welt nur insoweit zu kritisieren sei, wie die hauchdünne Schicht des menschlichen Verstandes einen Einfluß auf die übermächtigen tektonischen Kräfte der menschlichen Instinkte besitzt. Die einen werden die anderen Pessimi-sten schelten, die anderen jene Utopisten schmähen. Die einen werden behaupten, die Geschichte verlaufe nach bestimmten Gesetzen, die anderen werden sagen, diese Gesetze existieren nur in der menschlichen Vorstellung. Der Kampf zwischen uns beiden, Pannychis, wird auf allen Gebieten entbrennen, der Kampf zwischen dem Seher und der Pythia; noch ist unser Kampf emotional und wenig durchdacht, aber schon baut man ein Theater, schon schreibt in Athen ein unbekannter Dichter eine Ödipustragödie. Doch Athen ist Provinz, und Sophokles wird vergessen werden,
Weitere Kostenlose Bücher