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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Iokaste hatte ihr das Leben endgültig verleidet. »Ich weiß, du kommst, weil ich jetzt sterben muß. Das war mir schon lange klar. Längst bevor die Schatten heraufstiegen, Menoikeus, Laios, Ödipus, die Hure Iokaste und jetzt du. Steig wieder hinab, Tiresias, ich bin müde.«
    »Auch ich muß jetzt sterben, Pannychis«, sagte der Schatten,
    »mit uns beiden wird es im gleichen Augenblick vorüber sein.
    Eben habe ich, mit meinem wirklichen Körper, erhitzt aus der Quelle Tilphussa getrunken.«
    »Ich hasse dich«, zischte die Pythia.
    »Laß deinen Groll«, lachte Tiresias, »fahren wir beide versöhnt in den Orkus«, und auf einmal bemerkte Pannychis, daß der gewaltige uralte Seher gar nicht blind war, denn er zwin-kerte ihr mit seinen hellen grauen Augen zu.
    »Pannychis«, meinte er väterlich, »allein das Nichtwissen der Zukunft macht uns die Gegenwart erträglich. Ich wunderte mich immer maßlos darüber, daß die Menschen so erpicht sind, die Zukunft zu erfahren. Sie scheinen das Unglück dem Glück vorzuziehen. Nun gut, wir lebten von diesem Hang der Menschen, ich, zugegeben, weitaus besser als du, wenn es auch nicht ganz leicht war, jene sieben Leben lang, die mir die Götter schenkten, den Blinden zu spielen. Aber die Menschen wünschen nun einmal blinde Seher, und seine Kunden darf man nicht enttäuschen. Was nun das erste von mir in Delphi bestellte Orakel betrifft, worüber du dich so geärgert hast, das Orakel über Laios, nimm es nicht so schlimm. Ein Seher braucht Geld, eine vorgetäuschte Blindheit kostet, der Knabe, der mich führte, mußte bezahlt werden, jedes Jahr ein anderer, hatte er doch unbedingt siebenjährig zu sein, dann das Spezial-personal, dazu überall in Griechenland Vertrauensleute, und da 115

    kommt dieser Menoikeus – ich weiß, ich weiß, im Archiv hast Du nur fünftausend Talente verbucht gefunden, die ich für das Orakel bezahlte, während mir Menoikeus fünfzigtausend – aber es war ja auch kein Orakel, sondern eine Warnung, denn Laios, an den die Warnung ging, sein Sohn werde ihn töten, hatte nicht nur keinen Sohn, es war ihm auch unmöglich, einen zu haben, ich mußte schließlich seine für einen Dynasten verhängnisvolle Veranlagung in Betracht ziehen.
    Pannychis«, fuhr Tiresias begütigend fort, »ich bin wie du ein vernünftiger Mensch, ich glaube auch nicht an die Götter, aber ich glaube an die Vernunft, und weil ich an die Vernunft glaube, bin ich überzeugt, daß der unvernünftige Glaube an die Götter vernünftig anzuwenden ist. Ich bin Demokrat. Es ist mir bewußt, daß schon unser Uradel heruntergekommen und verrottet ist, durch und durch bestechlich, für jedes Geschäft zu haben, sein sittlicher Zustand ist unbeschreiblich: Wenn ich nur an den ewig betrunkenen Prometheus denke, der seine Leber-zirrhose lieber den Adlern des Zeus zuschreibt als dem Alko-hol, oder an den völlig verfressenen Tantalos, der die Einschränkungen, die ihm seine Diabetesdiät auferlegt, so maßlos übertreibt. Und erst unser Hochadel, ich bitte dich. Thyestes verspeist seine Kinder, Klytämnestra erschlägt ihren Gatten, Leda treibt es mit einem Schwan, die Gattin des Minos mit einem Stier – ich danke schön. Dennoch, wenn ich mir die Spartaner vorstelle mit ihrem totalen Staat – verzeih, Fanny-chis, ich möchte dich nicht mit Politik belästigen –: aber die Spartaner leiten sich nun einmal auch von den Drachenmännern ab, von Chthonios, einem der fünf Berserker, die am Leben blieben, und Kreon stammt von Udaios ab, der sich erst nach dem Gemetzel aus dem Boden herauswagte – meine verehrte Pythia, Kreon ist treu, zugegeben, die Treue ist etwas Wunderbares und Hochanständiges, auch zugegeben, aber ohne Treue gibt es keine Diktatur, die Treue ist der Fels, auf dem der totale Staat ruht, ohne Treue würde er im Sand versinken; 116

    während für die Demokratie eine gewisse maßvolle Treulosig-keit vonnöten ist, etwas Flatterhaftes, Charakterloses, Phanta-sievolles. Hat Kreon Phantasie? Ein fürchterlicher Staatsmann brütet sich da aus, Kreon ist ein Drachenmann, wie die Spartaner Drachenmänner sind. Mein Wink an Laios, er solle sich vor einem Sohne hüten, den er doch nicht haben konnte, war eine Warnung vor dem Erben Kreon, den Laios an die Macht bringen würde, wenn er nicht vorsorgte: Einer seiner Generäle war schließlich Amphitryon, bester, noch anständiger Uradel, seine Frau Alkmene von noch anständigerem Uradel, sein oder nicht sein Sohn Herkules –

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