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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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warf ich den Sohn Iokastes den Löwinnen vor und durchstach meinem Sohn die Fersen, und am nächsten Morgen zog der Hirte mit dem Menschen-bündel weiter, ohne den Austausch zu bemerken.
    Kaum war er davon, kam mein Vater mit Polyphontes; die Löwinnen räkelten sich faul, zwischen ihnen lag eine Kinder-hand, ausgeblutet, weiß und klein wie eine Blume. ›Haben die Löwinnen beide Kinder zerfleischt?‹ fragte mein Vater ruhig.
    ›Beide‹, sagte ich. ›Ich sehe nur eine Hand‹, sagte er, wendete sie mit seinem Speer um. Die Löwinnen knurrten. ›Die Löwinnen haben beide zerfleischt‹, sagte ich, ›aber nur eine Hand übriggelassen, damit mußt du dich zufrieden geben.‹ ›Wo ist der Hirte?‹ fragte mein Vater. ›Ich habe ihn fortgeschickt‹, sagte ich. ›Wohin ?‹ ›Zu einem Heiligtum‹, sagte ich, ›er war dein Werkzeug, aber ein Mensch. Er hat das Recht, sich von seiner Schuld, dein Werkzeug gewesen zu sein, zu reinigen –
    und nun geh.‹ Mein Vater und Polyphontes zögerten, aber die Löwinnen erhoben sich zornig, jagten die beiden davon und kehrten gemächlich zurück.
    Mein Vater wagte mich nicht mehr zu besuchen. Achtzehn Jahre hielt ich mich still. Dann begann ich, mit meinen Löwinnen Theben zu belagern. Unsere Feindschaft war offen ausgebrochen, ohne daß mein Vater es wagte, den Grund dieses Krieges zu nennen. Argwöhnisch und immer noch vom Orakel verängstigt, wußte er mit Sicherheit nur, daß ein Kind tot war; wenn aber eines lebte, wußte er nicht welches, er fürchtete, daß sein Enkel noch irgendwo lebe und ich mit ihm im Bunde sei.
    Er schickte dich zu mir, Tiresias, um mich auszuhorchen.«
    »Er sagte mir nicht die Wahrheit, und du sagtest mir nicht die Wahrheit«, antwortete Tiresias bitter.

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    »Hätte ich dir die Wahrheit gesagt, du hättest nur wieder ein Orakel inszeniert«, lachte die Sphinx.
    »Und warum befahlst du deinem Vater, Theben zu verlassen?« fragte Tiresias.
    »Weil ich wußte, daß er in seiner Todesangst nach Delphi wollte. Ich ahnte ja nicht, welch genialische Orakelei dort inzwischen mit Pannychis eingerissen hatte, ich dachte, käme Laios, würde, um Widersprüche zu vermeiden, im Archiv nachgeschaut und das alte Orakel wiederholt, das hätte ihn noch mehr in Furcht und Schrecken versetzt! Nun wissen die Götter allein, was geschehen wäre, hätte Laios Pannychis befragt, was die ihm vorgeflunkert und was er geglaubt hätte.
    Aber es kam nicht dazu, Laios und Polyphontes trafen im Engpaß zwischen Delphi und Daulis auf Ödipus, und der Sohn erstach nicht nur seinen Vater Polyphontes, sondern ließ auch seinen Großvater Laios von den Rossen zu Tode schleifen.«
    Die Sphinx schwieg. Die Dämpfe hatten aufgehört, der Dreifuß neben der Pythia war leer, Tiresias war wieder ein mächtiger Schatten, kaum zu unterscheiden von den Quadern, die das Hauptportal umtürmten, in welchem die Sphinx stand, nur noch eine Silhouette.
    »Dann wurde ich die Geliebte meines Sohnes. Man kann über seine glücklichen Tage nicht viel sagen«, fuhr die Sphinx nach langem Schweigen fort, »das Glück haßt die Worte.
    Bevor ich Ödipus kennenlernte, verachtete ich die Menschen.
    Sie waren verlogen, und weil sie verlogen waren, kamen sie nicht darauf, daß das Rätsel, welches Wesen allein die Zahl seiner Füße wechsle, am Morgen sei es vier-, am Mittag zwei-und am Abend dreifüßig, aber wenn es die meisten Füße bewege, seien Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten, sie selber meine, und so ließ ich die Unzähligen, die keine Lösung wußten, von meinen Löwinnen zerfleischen.
    Sie schrien um Hilfe, während sie zerfetzt wurden, und ich half ihnen nicht, ich lachte nur.

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    Doch als Ödipus kam, humpelnd, von Delphi her, und mir antwortete, das sei der Mensch, er krieche als Säugling auf allen vieren, stehe in seiner Jugend fest auf zwei Beinen und stütze sich im hohen Alter auf einen Stock, warf ich mich nicht vom Berge Phikion hinab in die Ebene. Warum auch? Ich wurde seine Geliebte. Er fragte mich nie nach meiner Herkunft.
    Er bemerkte natürlich, daß ich eine Priesterin war, und weil er ein frommer Mann war, glaubte er, es sei verboten, mit einer Priesterin zu schlafen, und weil er dennoch mit mir schlief, stellte er sich unwissend, und darum fragte er mich nicht nach meinem Leben, und ich fragte ihn nie nach dem seinen, nicht einmal nach seinem Namen, denn ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Ich wußte wohl, daß, hätte er mir seinen

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