Der Sturz - Erzählungen
den du ihn gehalten hast, um dein Gewissen zu beruhigen. Er war ein heimtückischer und abergläubischer Tyrann. Er wußte genau, daß jede Tyrannei dann unerträglich wird, wenn sie auf Grund-121
sätzen beruht; nichts erträgt der Mensch weniger als eine sture Gerechtigkeit. Gerade sie empfindet er als ungerecht. Alle Tyrannen, die ihre Herrschaft auf Prinzipien gründen, auf die Gleichheit aller oder darauf, daß alles allen gemeinsam sei, erwecken in denen, über die sie herrschen, ein ungleich größeres Gefühl, unterdrückt zu sein, als jene Tyrannen wie Laios, die, zu faul für Ausreden, sich damit begnügen, Tyrannen zu sein, auch wenn sie weit schändlichere Tyrannen sind: Da ihre Tyrannei launisch ist, haben ihre Untertanen das Gefühl einer gewissen Freiheit. Sie sehen sich nicht von einer willkürlichen Notwendigkeit diktiert, die ihnen keine Hoffnung läßt, sondern sind einer zufälligen Willkür unterworfen, die ihnen ihre Hoffnung beläßt.«
»Donnerwetter«, sagte Tiresias, »du bist aber klug.«
»Ich habe über die Menschen nachgedacht, ich habe sie aus-gefragt, bevor ich ihnen mein Rätsel aufgab und sie von meinen Löwinnen zerreißen ließ«, antwortete die Sphinx.
»Es interessierte mich, warum sich die Menschen beherr-schen ließen: Aus Bequemlichkeit, die oft so weit geht, daß sie die unsinnigsten Theorien erfinden, um sich eins mit ihren Beherrschern zu fühlen, und die Beherrscher ersinnen ebenso unsinnige Theorien, um sich einbilden zu können, sie be-herrschten jene nicht, über die sie herrschen. Nur meinem Vater war das alles gleichgültig. Er war noch einer jener Gewaltherrscher, die stolz darauf waren, Gewaltherrscher zu sein. Er hatte es nicht nötig, eine Ausrede für seine Gewaltherrschaft zu erfinden. Was ihn quälte, war sein Schicksal: daß er kastriert und dem Geschlecht des Kadmos ein Ende gesetzt worden war. Ich spürte seine Trauer, seine bösen Gedanken, die undurchsichtigen Pläne, die er wälzte, wenn er mich besuchte, wenn er vor mir saß, stundenlang, und mich belauerte, und so fürchtete ich meinen Vater, und weil ich mich fürchtete, begann ich Löwinnen zu zähmen. Mit Recht. Als die Priesterin gestorben war, die mich aufgezogen hatte, und ich im Heilig-122
tum des Hermes im Gebirge Kithairon mit den Löwinnen allein hauste – Pannychis, dir will ich es sagen, und auch Tiresias soll es meinetwegen wissen –, da besuchte mich Laios mit seinem Wagenlenker Polyphontes.
Sie traten aus dem Wald, irgendwo wieherten ängstlich ihre Pferde, die Löwinnen fauchten, ich fühlte etwas Böses, aber ich war gelähmt. Ich ließ sie ins Heiligtum. Mein Vater verriegelte die Tür und befahl Polyphontes, mich zu vergewaltigen. Ich wehrte mich. Mein Vater half Polyphontes, und während mich mein Vater umklammerte, kam Polyphontes seinem Befehl nach. Die Löwinnen brüllten um das Heiligtum. Sie schlugen mit den Pranken gegen die Tür. Sie hielt stand. Ich schrie, als Polyphontes mich nahm; die Löwinnen verstummten. Sie ließen Laios und Polyphontes ziehen.
Zur gleichen Zeit, als Iokaste ihrem Gardeoffizier einen Knaben gebar, brachte auch ich einen Knaben zur Welt: Ödipus. Ich wußte nichts von dem dummen Orakel, das du, Tiresias, formuliert hattest. Ich weiß, du wolltest meinen Vater warnen und verhindern, daß Kreon an die Herrschaft käme, und du wolltest den Frieden sichern. Doch abgesehen davon, daß Kreon an die Macht gekommen ist und ein endloser Krieg beginnt, weil die sieben Fürsten gegen Theben anrücken, hast du vor allem Laios falsch eingeschätzt. Ich kenne seine Sprü-
che: Er gab sich aufgeklärt, aber vor allem er glaubte an das Orakel, vor allem er erschrak, als ihm verkündet wurde, sein Sohn werde ihn töten. Laios bezog das Orakel auf meinen Sohn, seinen Enkel; daß er sich vorsichtigerweise auch noch des Sohnes der Iokaste und ihres Gardeoffiziers entledigte, verstand sich von selbst: Fingerübungen eines Diktators, sicher ist sicher.
Und so erschien denn eines Abends ein Hirte des Laios bei mir mit einem Säugling, dessen Füße durchbohrt und zusammengebunden waren. Er übergab mir einen Brief, worin Laios mir befahl, meinen Sohn, seinen Enkel, samt dem Sohn Ioka-123
stes den Löwinnen vorzuwerfen. Ich machte den Hirten betrunken, er gestand mir, von Iokaste bestochen worden zu sein; er sollte ihren Sohn einem befreundeten Hirten des Königs Polybos von Korinth übergeben, ohne die Herkunft des Kindes zu verraten. Als der Hirte schlief,
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