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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ich klärte ihn nicht auf, warum auch, Männer sind immer so sensibel, und so sagte ich ihm denn auch nicht, daß Laios keineswegs sein Vater sei, wie er jetzt natürlich glaubt; sein Vater war der Gardeoffizier 112

    Mnesippos, ein gänzlich unbedeutender Schwätzer mit erstaun-lichen Fähigkeiten auf einem Gebiet, wo er nicht zu reden brauchte. Daß er Ödipus in meinem Schlafzimmer überfiel, als mich mein Sohn und späterer Gatte zum ersten Male aufsuchte, mich kurz und ehrerbietig grüßte und gleich zu mir ins Bett stieg, war wohl nicht zu vermeiden. Offenbar wollte er die Ehre des Laios verteidigen, ausgerechnet Mnesippos, der es doch mit dessen Ehre nie sonderlich genau genommen hat. Ich konnte Ödipus gerade noch sein Schwert in die Hand drücken, ein kurzes Gefecht, Mnesippos war nie ein starker Fechter.
    Ödipus ließ ihn den Geiern aussetzen, nicht aus Grausamkeit, sondern weil Mnesippos ein so schlechter Fechter gewesen war, aus sportlicher Kritik. Na ja, die fiel verheerend aus, Sportler sind strenge Leute. Aber weil ich Ödipus nicht aufklä-
    ren durfte, um nicht gegen den Ratschluß der Götter zu handeln, konnte ich ihn auch nicht daran hindern, mich zu heira-ten, grauenerfüllt, weil dein Orakel, Pannychis, wahr wurde, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte: ein Sohn, der zu seiner Mutter ins Bett steigt, Pannychis, ich glaubte, vor Entsetzen ohnmächtig zu werden, aber ich wurde ohnmächtig vor Lust, nie war sie gewaltiger, als wenn ich mich ihm hingab; der herrliche Polyneikes schoß aus meinem Leib, Antigone, rothaarig wie ich, Ismene, die zarte, Eteokles, der Held. Ich hatte mich mit meiner Hingabe an Ödipus nach dem Ratschluß der Götter an Laios gerächt, dafür, daß er meinen Sohn den wilden Tieren zum Fraße vorsetzen wollte und daß ich jahrelang um meinen Sohn bitterlich geweint hatte, und so war ich denn immer, wenn Ödipus mich umfing, eins mit dem Ratschluß der Götter, die meine Hingabe an den gewaltigen Sohn und mein Opfer wollten. Beim Zeus, Pannychis, unzählige Männer sind noch über mich gestiegen, geliebt aber habe ich nur Ödipus, den die Götter zu meinem Gatten bestimmten, damit ich als einzige der sterblichen Weiber nicht einem fremden, sondern dem von mir geborenen Manne Untertan werde: mir selbst.

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    Daß er mich liebte, ohne zu wissen, daß ich seine Mutter war, ist mein Triumph; daß das Unnatürlichste zum Natürlichsten wurde, macht das Glück, das die Götter mir bestimmten. Ihnen zu Ehren habe ich mich erhängt – das heißt, nicht eigentlich ich erhängte mich, sondern der Nachfolger des Mnesippos, der erste Gardeoffizier des Ödipus, Molorchos. Denn als dieser vernahm, daß ich die Mutter des Ödipus sei, raste er, eifersüchtig auf den zweiten Gardeoffizier Meriones, in mein Schlafzimmer, rief: ›Wehe dir, Blutschänderin!‹ und hängte mich an den Türbalken. Alle glauben, ich hätte es selbst getan. Auch Ödipus glaubt es, und weil er mich nach dem Ratschluß der Götter mehr liebt als sein Leben, blendete er sich: So gewaltig ist seine Liebe zu mir, die ich seine Mutter und sein Weib zugleich gewesen bin. – Aber vielleicht war Molorchos gar nicht auf Meriones eifersüchtig, sondern auf den dritten Gardeoffizier Melontheus – komisch, alle meine Gardeoffiziere begannen nach dem Ratschluß der Götter mit M – aber das ist nun wirklich gleichgültig, die Hauptsache, denke ich, ist, daß ich nach dem Ratschluß der Götter meinem Leben freudig ein Ende setzen lassen durfte. Ödipus, meinem Sohn und Gatten zum Lobe, Ödipus, den ich nach dem Ratschluß der Götter mehr liebte, als ich je einen Mann geliebt habe, und Apollo zum Preise, der aus deinem Munde, Pannychis, die Wahrheit verkündete.«
    »Du Luder«, schrie die Pythia heiser, »du Luder, mit deinem Ratschluß der Götter, ich habe doch nur geschwindelt mit meinem Orakel!«
    Aber es war kein Schreien mehr, es war ein heiseres Flüstern, und nun stieg ein ungeheurer Schatten aus der Erdspalte, das Licht der grauhellen Nacht verdeckte eine undurchdringliche Wand vor der Pythia.
    »Weißt du, wer ich bin?« fragte der Schatten, der ein Gesicht bekam, dessen eisgraue Augen sie ruhig betrachteten.
    »Du bist Tiresias«, antwortete die Pythia, sie hatte ihn erwartet.

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    »Du weißt, warum ich dir erscheine«, sagte Tiresias, »auch wenn es mir in diesen Dämpfen recht ungemütlich ist, ich leide nicht unter Rheumatismus.«
    »Ich weiß«, sagte die Pythia erleichtert, das Geschwätz der

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