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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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abwenden. Was hatte ER in IHR erblickt? Vielleicht wird so das SCHICKSAL erkannt? Vielleicht sieht das SCHICKSAL so aus? Auch ihre Aufmachung fesselte die Aufmerksamkeit nicht, die sich selbst gegenüber gleichgültige Aufmachung einer Frau, bequem, nichts weiter, und in der Hand eine Einkaufstasche. Aschblondes langes Haar, hochtoupiert, als sträubte es sich. Schlampe. Aber ja, eine Schlampe, sagte ich mir. Und konnte die Augen nicht abwenden. Die Augen! Die Augen konnte ich nicht abwenden von ihren Augen! Eine hohe Stirn, breite, weißliche Brauen, die Augen wohl eher grau als blau (ein Schwarzweißphoto), aber groß, keine kleinen Augen, quasi rechteckig, und zauberhaft angeordnet, so weit vom Nasenrücken weg, wie es das gar nicht gibt. Die Wangenknochen ebenfalls unglaublich breit, aber gerade das fällt nicht auf, weil die Augen so weit auseinander stehen. In verschiedene Richtungen schauen, wie bei einem Fisch. Ein Fisch, sagte ich mir. Motte, Schlampe, Fisch, so sagte ich mir. Aber nie ist jemand so gut gebaut gewesen unter seiner Kleidung wie sie …
    Ach nein, ich kann das nicht wiedergeben. Ich weiß nicht mehr, was ich zuerst erblickt und was ich später entdeckt habe, in welcher Reihenfolge. Das ist sehr wichtig, die Reihenfolge. Zuerst sein erschüttertes Gesicht. Dann die Verstörung beim Anblick ihres Gesichts, an dem nichts war, um derart erschüttert zu sein. Dann ihr gespiegeltes Gesicht, noch bleicher, verwischt, doch auch verwundert. Dann sein Spiegelbild, gleichsam verzerrt von noch größerem Entsetzen, nun vor sich selbst, vor dem Anblick der eigenen Erschütterung. Für den Bruchteil einer Sekunde belebte sich die Photographie, sie schwenkte um. Wie wenn noch jemand in das Geschäft oder aus ihm gekommen wäre, die Glastür geschwenkt und gependelt hätte … aber zuerst schaute er auf sie und sie aufs Schaufenster, dann er aufs Schaufenster und sie auf ihn. Diese Photographie hat sich mir ein für allemal eingeprägt, ich habe sie auch jetzt vor Augen. Oh, ich habe sie studiert wie nichts sonst in meinem Leben! Bloß könnten es auch drei nacheinander gewesen sein, wie Bilder auf einem Filmstreifen. Oder die Photographie wurde, für den Bruchteil einer Sekunde, derart stereoskopisch, dass man meinte, den Photographierten hinter den Rücken schauen zu können.
    ›Messen Sie dem keine Bedeutung … Reiner Zufall … Absolut ein Fragment … Glauben Sie nichts von dem … Das sollte ich besser nicht … Hätte nicht gedacht, dass Sie …‹
    Sein Gebrabbel schlug mir unangenehm ans Ohr und bewirkte schließlich, dass ich mich von der tatsächlich nicht übermäßig bedeutsamen Darstellung losriss, doch da war der verrückte Kerl schon fort.
    Sein Rücken schien noch am Ende der Allee davonzuhuschen, obwohl das vielleicht nicht mehr er war. Ich wollte ihm nachlaufen, blieb jedoch merkwürdigerweise einfach sitzen; ich weiß nicht, wie lange ich zum Ende der Allee spähte, hypnotisiert davon, wie er sich verflüchtigt hatte, und zu mir kam ich erst, als die Photographie mir entglitt und in den Sand fiel – die Photographie gab es also! Ich beugte mich vor, hob sie automatisch auf. Es war nicht jene Photographie! Aber diese hatte ich ebenfalls flüchtig gesehen, während er in seiner Map
pe wühlte: Wolken … Die ›Ansicht des Himmels über Troja‹ … Ja, genau die, die hier bei mir hängt.
    Kommt Ihnen der Plot der ›Ilias‹ nicht ein wenig seltsam vor? sagen wir, in die Länge gezogen? Ich sehe ein, das steht nicht mehr zur Debatte. Die ›Odyssee‹ ist, als nächster Plot, für uns eher nachvollziehbar. Was bleibt da sonst, als zu segeln und zu segeln. Nur Wogen … Helena allerdings … Die poetischen Reminiszenzen, die sie über die Jahrhunderte ausgelöst hat, sind weit realer als sie selbst. Nein, nicht ihre unbeschreibliche, vielmehr ihre unbeschriebene, ihre eben nicht beschriebene Schönheit hat die Dichter erregt und erregt sie noch, sondern die Tatsache ihrer Existenz, ob es sie gegeben hat. Ihre Existenz ist durch nichts bewiesen, außer durch die Tatsache, dass ihretwegen der Trojanische Krieg ausgebrochen ist. Irgendwie muss ein Krieg doch erklärt werden? Den Krieg hat es gegeben, aber ob Helena der Grund war? und hat es Helena selbst gegeben? Die Dichter verehren nicht Helena, sondern in ihr den Kriegsgrund. Ebendeshalb kann man endlos sie als Figur beschwören, weil es sie selbst nicht gegeben hat. Versteht sich, dass ich meiner Photounbekannten sogleich

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