Der Symmetrielehrer
Photographie war zweifellos ich, und mein künftiges Gesicht gefiel mir und passte zu mir, aber wovon war es nur so verzerrt? Wovon konnte ich dermaßen erschüttert sein, denn in meiner bisherigen Erfahrung und in dem, was ich mir als künftige vorzustellen imstande war, gab es keinen derartigen Gesichtsausdruck und konnte es keinen geben. Auch auf anderen Gesichtern war mir kein einziges Mal etwas Derartiges begegnet, bloß in der Literatur, in irgendwelcher Kinderlektüre: ›Sein Gesicht wurde von unbeschreiblichem Schmerz und Leid verzerrt, von Verzweiflung und Entsetzen.‹ Aber ich sah mich an dieser Photographie fest, noch und noch, und kam zu der Überzeugung, dass diese Provinzbühne, diese Hintertreppen-Mimesis in diesem Fall nichts Nachgeahmtes war, sondern echt. Und wenn so etwas im Leben sein konnte, zumal nicht mit irgendwem, sondern mit mir, was hieß das dann? Auch da blieben keine Zweifel, gab es keine Wahl: es war SIE . Man
kann es nennen, wie man will, die Frau meines Lebens oder das Schicksal persönlich. Sie gefiel mir nicht, sie war nicht mein Geschmack – ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, inwieweit ›meine‹ Dika schön war, ich brauchte das nicht mit mir zu klären: ich wusste nicht, inwieweit sie schön war, insofern alles an ihr schön war. Mir war nicht wichtig, wie sie aussah; aussehen kann man nur für andere, und ich verglich nicht, insofern sie – für mich da war. Nicht-zur-Debatte-Stehen ist Billigung durch Liebe. Mir war es gleich, wie sie war. Aber wie war es mir im Nu nicht mehr gleich, wie diese ›nicht meine‹ Helena war! Und wenn Helena nicht mir gehörte, wem dann? Es gibt sie doch jetzt schon, während wir uns noch nicht begegnet sind? Eifersucht durchfuhr mich in ihrer ganzen Plötzlichkeit, wie ein Durchschuss. Ich kannte sie nicht, sie gefiel mir nicht, ich liebte sie nicht, aber ich war bereits eifersüchtig. Ich war mir sicher, dass ich ihr dieser Tage begegnen würde. Denn was musste man miteinander erlebt haben, dass selbst Jahre später die Zufallsbegegnung vor einem Geschäft mich so erschüttern würde? Was konnte an ihr derart unvorstellbar sein, dass es ohne das künftig kein Leben mehr gäbe?
›Haben Sie die … mir mitgebracht?‹ fragte Dika. Verloren und hoffnungslos betrachtete sie die Wolken.
Und als ich sie durch die weißlich durchscheinende Helena anschaute, sah ich plötzlich eine fremde junge Frau vor mir, überhaupt nicht die, zu der ich gekommen war. Bisher war ich stets gerade zu ihr gekommen, und die Freude bestand darin, dass es jedesmal gerade sie gewesen war. Jetzt aber betrachtete ich ihr unbekannt gewordenes Gesicht, und zum erstenmal verglich ich … Der Vergleich fiel zweifellos zu ihren Gunsten aus! Sie hob sich vorteilhaft ab. An ihr war alles Farbe, im Unterschied zu dem Photoschatten: angehaltenes Licht – gegen strömendes Licht. Der Sommer noch jung, kindlich das Laub, klar der Wind, ein Wolkenschatten jagt über Kükengras, im Laub plätschert der Himmel – solch ein Gesicht. Zum allerersten Mal war ich entzückt von ihm – es gehörte nicht mehr mir. Gehörte niemandem, so wenig wie das Wetter, an
das es erinnerte: ein verlassenes Paradies. Satan! was für einen ungleichen Apfel hast du mir untergeschoben!
Ich hatte angebissen und es nicht bemerkt. Dika konnte ich umarmen, küssen – da war sie, vor mir, sie erwartete es. Sie wollte die Meine werden. Mein war jedoch schon diese papierene Helena, die es gar nicht gab. ›Dieser Verrückte! dieser Idiot!‹ verfluchte ich den Unbekannten und hatte schon begriffen, dass diese Verfluchungen noch am ehsten auf mich selbst zutrafen. Wie wünschte ich mir, ihm erneut zu begegnen, ihm Name und Adresse abzupressen, oder ein Betrugsgeständnis, oder die Diagnose Wahnsinn, oder sein Geheimnis, oder seine Seele – aber natürlich verschlug es ihn nicht mehr in den Garden Park.
Er hatte ebenso dem Satan geglichen wie die Photographie einem Apfel. Ich wanderte endlos durch die Stadt auf der Suche nach Helena, spähte in alle Gesichter und Schaufenster, doch nicht einmal jenes Schaufenster fand ich; bloß mein eigenes Spiegelbild verdross mich durch seine Ähnlichkeit, noch nie war ich ihm so häufig begegnet! Es war mir zuwider, ich erkannte mich selbst nicht, kam mir allmählich wie eine gesichtslose Menge vor.
Alles ringsum erinnerte an etwas, ich mühte mich ab, und es fiel mir nicht ein. Ein jedes Etwas wurde einem anderen Etwas
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