Der Täter / Psychothriller
des Ruhestands mit der Zeit einfach verschwunden war. Er spürte eine innere Erregung, das Erwachen eines alten Instinkts. Die Worte seiner Nachbarin und die Panik in ihren Augen setzten sich zu einer Gleichung zusammen, und wie ein Taschenrechner, in den man Faktoren eingab, musste er die Lösung finden.
»Mrs.Millstein, es geht nicht darum, ob Sie sich getäuscht haben oder nicht. Entscheidend ist, dass Sie in Angst und Schrecken versetzt worden sind und mit Ihren Freunden reden müssen. Danach sollten Sie eine Nacht darüber schlafen, und wenn wir morgen früh alle ausgeruht und gestärkt sind, gehen wir am besten der Sache auf den Grund.«
»Dann werden Sie mir helfen?«
»Selbstverständlich. Wozu hat man schließlich Nachbarn?«
Sophie Millstein nickte dankbar und berührte seine Hand. Er senkte den Blick, und zum ersten Mal in all den Jahren, die er sie kannte, bemerkte er die verblasste blaue Tätowierung an ihrem Unterarm. A1742. Die Sieben war die deutsche Variante, geschwungen und mit einem Querstrich.
Die Dunkelheit war mit Macht hereingebrochen.
Simon Winter und Sophie Millstein liefen über den nächtlichen Hof, in dessen Mitte die Statue eines halbnackten Posaunenengels prangte. Früher einmal hatte der Putto einen kleinen Springbrunnen geziert, der jedoch seit Jahren ausgetrocknet war. Die kleine Wohnanlage bestand aus zwei identischen hellbraunen Gipsputzgebäuden, die einander gegenüberlagen. Sie waren in den zwanziger Jahren erbaut worden, in denen Miami Beach eine Blütezeit erlebte, und so hatten sich einige Jugendstilelemente erhalten – ein Torbogen hier, gerundete Fenster dort, eine fast sinnliche Wölbung der Fassade –, die den Bauten einen nostalgischen, femininen Reiz verliehen, wie die Umarmung einer längst verflossenen Geliebten.
Das Alter und die erbarmungslose Sonne hatten den Wohnungen zugesetzt: Von den Wänden blätterte Farbe, die Klimaanlagen ratterten eher, als dass sie surrten, Türen knarrten und klemmten in den Pfosten und Rahmen, die sich aufgrund der tropischen Luftfeuchtigkeit verzogen hatten. Draußen an der Straße verkündete ein verblasstes Schild: THE SUNSHINE ARMS . Simon Winter hatte die seltsam kryptische Metapher stets gemocht und sich in der heruntergekommenen Umgebung heimisch gefühlt.
Sophie Millstein blieb vor der Eingangstür stehen.
»Gehen Sie vor?«, fragte sie.
Winter nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und steckte ihn ins Riegelschloss.
»Wollen Sie nicht Ihre Waffe ziehen?«
Er schüttelte den Kopf. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie mitnahm, doch er wäre sich ein wenig albern vorgekommen, hätte er damit herumgefuchtelt. Seine Berufserfahrung sagte ihm unmissverständlich, dass er sich von Sophie Millsteins Angst hatte anstecken lassen und selbst nervös war. Hatte er die Waffe erst in der Hand, erschoss er am Ende noch Mr. und Mrs.Kadosh oder den alten Harry Finkel, die Nachbarn im Stockwerk über ihr.
»Nein«, antwortete er, schloss auf und trat ein.
»Der Lichtschalter ist da an der Wand«, erklärte sie, was er wusste, da ihre Wohnung spiegelverkehrt genau denselben Grundriss hatte wie seine. Er streckte die Hand aus und schaltete die Lampen ein.
»Gott!«, schrie Simon Winter erschrocken auf.
Eine grauweiße Gestalt huschte ihm zwischen den Beinen hindurch nach draußen.
»Was zum Teufel …«
»Mr.Boots, du Frechdachs!«
Simon Winter drehte sich um und sah, wie Sophie Millstein eine große, dicke Katze ermahnte, die ihrerseits den Kopf am Bein der alten Dame rieb. »Tut mir leid, wenn er Sie erschreckt hat, Mr.Winter.«
Sie hob den Kater hoch. Er beäugte Winter mit irritierender katzenhafter Selbstgefälligkeit.
»Nein, schon gut«, erwiderte er, auch wenn ihm das Herz bis zum Halse schlug.
Sophie Millstein verharrte auf der Schwelle und streichelte das Tier im Arm, während Simon Winter ihre Wohnung inspizierte. Ein rascher Blick sagte ihm, dass – außer einem Sittich im Wohnzimmer, der irritierende schabende Geräusche in seinem Käfig machte – niemand da war. »Die Luft ist rein, Mrs.Millstein!«, rief er.
»Haben Sie im Wandschrank nachgesehen? Und unter dem Bett?«, antwortete sie aus der Diele.
Simon Winter seufzte und erklärte: »Mach ich noch.« Er trat in ihr kleines Schlafzimmer und schaute sich um. Es berührte ihn peinlich, den Raum zu betreten, den Sophie Millstein mit ihrem Mann geteilt hatte. Er sah, dass sie eine ordnungsliebende Frau war; ein cremeweißes Nachthemd und ein
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