Der Täter / Psychothriller
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Ein verhinderter Tod
I n den frühen Abendstunden einer drückend schwülen Hochsommernacht in Miami Beach beschloss Simon Winter, ein alter Mann, der sich über viele Jahre beruflich mit dem Tod beschäftigt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Auch wenn es ihm leidtat, anderen einige Drecksarbeit zu hinterlassen, begab er sich langsam zu einem Wandschrank im Schlafzimmer und zog eine verkratzte, kurzläufige Detective Special aus einem ausgeblichenen, schweißverfleckten Lederholster. Mit Mühe klappte er die Trommel auf, holte fünf der sechs Kugeln heraus und steckte sie sich in die Hosentasche. Auf diese Weise, hoffte er, wäre jeder Zweifel an seinen Absichten ausgeräumt.
Ohne den Revolver aus der Hand zu legen, begann er, nach Stift und Papier zu kramen, um einen Abschiedsbrief zu schreiben. Zu seinem Ärger nahm das einige Minuten in Anspruch, und erst nachdem er in der Schublade seiner Kommode einige weiße, gebügelte Taschentücher, Krawattennadeln und Manschettenknöpfe zur Seite geschoben hatte, entdeckte er ein einziges, unbeschriebenes Blatt blauliniertes Notizpapier und einen billigen Kugelschreiber. Nun denn, dachte er, dann fass dich eben kurz.
Während er überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte, machte er vor dem Spiegel halt und betrachtete sich. Recht passabel. Sein kariertes Freizeithemd war ebenso wie seine khakifarbene Hose, die Socken und Unterwäsche sauber. Vielleicht sollte er sich rasieren, überlegte er, als er mit dem Rücken der Hand, in der er die Waffe hielt, über die Stoppeln strich, doch dann fand er es übertrieben. Ein Haarschnitt hätte nicht geschadet, doch stattdessen strich er sich nur einmal mit der Hand durch den weißen Schopf. Keine Zeit, dachte er. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er als Junge einmal gehört hatte, die Haare würden auch nach dem Tod noch weiterwachsen.
Haare und Nägel. Er wünschte sich, dass es stimmte. So etwas gehörte zu den Geschichten, die unter Kindern in heiligem Ernst als Flüsterpost die Runde machten und in dunklen Zimmern unweigerlich zu Gespenstergeschichten überleiteten. Zu den Widernissen des Älterwerdens, dachte Simon Winter, gehörte der Verlust der Mythen.
Er wandte sich vom Spiegel ab und warf einen flüchtigen Blick durchs Zimmer – das Bett war gemacht, in der Ecke lag kein Haufen schmutziger Wäsche. Seine Einschlaflektüre – Taschenbuchausgaben von Krimis und Abenteuergeschichten – war auf dem Nachttisch gestapelt und wenn auch nicht eben ordentlich, so doch einigermaßen vorzeigbar, etwa so wie er selbst. Jedenfalls ging das Maß an Durcheinander nicht über das hinaus, was man von einem alten Junggesellen oder, nebenbei gesagt, auch von einem Kind erwarten durfte. Die Parallele beschäftigte ihn eine Weile und gab ihm am Ende das unverhoffte Gefühl, irgendwie werde alles gut.
Durch den Türspalt ins Badezimmer fiel sein Blick auf das Fläschchen Schlaftabletten, und er spielte mit dem Gedanken, statt seines alten Dienstrevolvers diese zu verwenden, fand es dann aber feige, sich auf solche Weise umzubringen. Innerlich redete er sich gut zu: Du solltest so viel Schneid aufbringen, in den Lauf deiner Waffe zu blicken, und dir nicht einfach einen Haufen Pillen reinwerfen, um sanft, doch unwiderruflich hinüberzudämmern. Er ging in die Küche. Im Ausguss stand der Abwasch eines Tages. Während er darauf starrte, krabbelte eine riesige Schabe auf den Rand eines Tellers und rührte sich nicht mehr vom Fleck, als verfolgte sie gespannt, was Simon Winter als Nächstes vorhatte.
»Widerliche Biester«, knurrte er laut, »verfluchte Kakerlake.«
Er hob den Revolver und zielte. »Peng«, sagte er. »Ein einziger Schuss. Hast du übrigens gewusst, Viech, dass ich immer die besten Trefferquoten erreicht habe?«
Bei dem Gedanken seufzte er, bevor er mit einem Lächeln die Waffe und das Blatt Papier auf die Arbeitsplatte aus billigem, weißem Linoleum legte, sich das Geschirrspülmittel griff und zügig mit dem Abwasch begann. »Sauberkeit ist das halbe Leben.«
Zwar kam es ihm ein wenig albern vor, als letzten Akt auf Erden Teller zu spülen, andererseits war ihm klar, dass es an jemand anderem hängenbleiben würde, falls er es unterließ. Das wiederum war nicht seine Art: Er machte keine halben Sachen, die andere zu Ende führen mussten.
Die Kakerlake roch wohl die Seifenlauge, spürte, dass sie sich in tödlicher Gefahr befand, ergriff quer über die Platte die Flucht und entkam seinem
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