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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Bratwürste qualmten dunkelbraun verbrannt auf der Grillplatte, ein großer Plastikteller mit Pommes frites, Majonäse und Salat schien jemandem aus der Hand gefallen zu sein, alles lag auf dem Boden unmittelbar vor dem Tresen verstreut. Mir wurde kalt, weil ich noch immer in der geöffneten Tür stand. Ich rief, so laut ich konnte, »Hallo«, wartete einen Augenblick – und rannte dann, von Angst gejagt, quer durch den Raum zu einem Treppenabgang, über dem »Privat« stand. Aber auch unten war niemand, obwohl es so aussah, als sei noch kurz zuvor mindestens ein Mensch dort gewesen. Denn eine Damenhandtasche lag halb geöffnet auf einem Tisch, daneben ein eingeschaltetes Mobiltelefon, auch ohne Empfang, ein kleiner Spiegel, Lippenstift, Make-up – und in einem Aschenbecher eine Zigarette, die sich in ihrer vollen Länge zu Asche verwandelt hatte.
    Niemand aber war mehr dort. Ich raste wieder nach oben und lief auf die Straße. Lief schnell durch den unberührten Schnee einige hundert Meter nach links, einige hundert Meter nach rechts, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte eine Gänsehaut vor Kälte – und schwitzte dennoch aus Angst. Ich sah mich um. Nirgendwo konnte ich auch nur einen einzigen Fußabdruck erspähen. Bis zur nächsten Kreuzung war ich gelaufen: und auch dort, so weit ich gucken konnte – nichts. Keine Spur von einem Auto, einem Menschen – oder einem Tier. In vielen Wohnungen allerdings brannte Licht. Also machte ich immer wieder Sprünge hin zu den Hauseingängen und drückte alle Klingeln auf einmal. Wartete. Drückte noch einmal und wesentlich länger. Wartete danach nur kurz und hetzte zum nächsten Eingang. Denn nichts rührte sich. Nicht das Geringste. Überall: nur Stille.
    Und dann fing ich an, zu schreien – fing an, die erleuchteten Fenster über mir anzubrüllen: »Verdammt, was soll die Scheiße? Ihr Idioten! Es reicht jetzt! Zum Teufel, wo seid ihr? Warum meldet sich denn keiner? Was geht hier vor?« Ich schrie mir die Lunge aus dem Leib, hatte dabei Tränen in den Augen, aber die großen Schneeflocken, die nach wie vor sacht zu Boden schwebten, ignorierten meine Not und verbreiteten eine friedliche und tiefe Ruhe, als wären sie Boten des Glücks.
    Panisch rannte ich zurück zu meinem Haus. Ich wollte in die Geborgenheit meiner Wohnung und dort alles bedenken. Im Grunde suchte ich den Schutz meiner vier Wände, um der Unheimlichkeit, die immer tiefer in mein Herz eindrang, zu entfliehen. Ich hastete die Stufen hinauf, und im vierten Stock angekommen schlug ich meine Wohnungstür hinter mir zu, schloss sie zweifach ab, lehnte mich mit dem Rücken dagegen – und sank zitternd auf den Flurteppich. Im Kopf nur Angst, nur Verwirrung – und Marie. Seit ihrem Tod hatte ich immer eine ganz besondere Sehnsucht nach ihr verspürt, wenn etwas Ungewöhnliches, ob schön oder weniger schön, geschehen war. Die Vorkommnisse der letzten Stunden nun sprengten alle meine Erfahrungen – und ich wünschte mir jetzt nichts sehnlicher als ihre Nähe, ihre Meinung, ihren Beistand. Ich hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, das Gesicht in meine geöffneten Hände gestützt, und sagte leise »Julchen, Julchen« vor mich hin. Julchen war mein Kosename für sie gewesen. Ich weiß gar nicht mehr, wie er damals entstanden ist. Julchen hat mit Marie ja nicht viel gemein. Aber irgendwann, einfach so und wohl spontan, hatte ich sie Julchen genannt. Was sie sofort sehr mochte, und ich wiederum freute mich darüber, dass ihr dieser Name so gut gefiel. Also ließ ich keine Gelegenheit aus, Julchen zu ihr zu sagen. Was eigentlich immer auch einer kleinen Liebeserklärung gleichkam. Aber Julchen war nicht da, war überhaupt nicht mehr auf dieser Welt.
    Um gegen die Trauer und die Verzweiflung anzukämpfen, hatte ich mir in den letzten Jahren stets streng untersagt, diesen Kosenamen zu denken, geschweige denn, ihn auszusprechen. Zu groß waren die Schmerzen, wenn ich es dann doch hin und wieder tat. Und diese Schmerzen spürte ich nun heftiger denn je. So verbannte ich Julchen schnell wieder weit weg in die goldenen Paläste der Erinnerung – und stand auf.
     
    Ich ging zum Fenster. Die Außentemperatur war nunmehr auf minus sechs Grad gesunken, und wohin ich auch blickte: dick beschneite Dächer, dick beschneite, blättertragende Bäume. Wo waren die Menschen meiner Straße geblieben? Hatten sie wirklich die Flucht ergriffen? Wenn ja, warum? Und warum hatte ich den Grund der Flucht nicht bemerkt?

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