Der Tag an dem die Sonne verschwand
1. EINTRAG
Wenn ich jetzt nicht zu schreiben beginne, werde ich irrsinnig. Heute ist bereits der neunundzwanzigste Tag. Seit knapp einem Monat gibt es keine Sonne mehr, keine Lebewesen, keine Geräusche.
Ich bin Lorenz. Vor vierzig Jahren geboren und von Beruf freier Fotograf. Ich lebe in einer deutschen Großstadt, wohne im Dachgeschoss eines vierstöckigen Altbaus und habe heute auf den Tag genau vor drei Jahren die tiefste Liebe meines Lebens verloren. Marie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war ohne Schuld. Als mir ihr Bruder damals am Telefon die Todesnachricht übermittelte, konnte ich nichts, aber auch gar nichts sagen, dafür lief mir der Urin die Beine hinunter – und ihr Bruder rief immer wieder in den Hörer: »Bist du da, bist du noch da?« – bis ich auflegte. Ich habe seither niemanden mehr lieben können.
Die Ereignisse der letzten neunundzwanzig Tage sind für mich vollkommen unerklärlich. Ich bin gefangen in einem Mysterium. Aber vom ersten Tage an gaukelte mir mein Gehirn vor: Alles ist nur vorübergehend, alles wird sich klären. Und so habe ich mich ausschließlich um das Nötigste gekümmert und mit Gewalt gegen die Angst angekämpft. Heute allerdings ist sie so mächtig – ich habe das Gefühl, bei lebendigem Leibe von ihr gefressen zu werden.
Eigentlich sollte jetzt Sommer sein, aber die Stadt versinkt im Schnee. Es ist Mitte August. Und am 17. Juli hat alles begonnen.
Seit Wochen war es ausgesprochen heiß gewesen, über vierzig Grad im Schatten. Noch nie hatte ich hier in meiner Stadt eine derartige Hitze erlebt. Alle sprachen von einem Jahrhundertsommer, und ich konnte es in meinem Dachgeschoss kaum aushalten. Die Morgenstunden des Siebzehnten verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Wieder war es sehr heiß, der Himmel ohne Wolken und stechend blau, die Luft leicht in Bewegung. Ein Vormittag wie so viele andere in diesem Sommer. Das Wetter schien stillzustehen. Die Vorhersagen meldeten seit Wochen ein konstantes Hochdruckgebiet über ganz Europa. Gegen dreizehn Uhr aber geschah etwas Merkwürdiges. Es zogen aus allen Himmelsrichtungen Wolkengebirge auf. Und zwar so schnell, als würden sie von heftigen Stürmen getrieben. Aber es gab keinen Sturm. Es war sogar vollkommen windstill geworden. Und die Gebirge am Firmament verfinsterten sich zusehends. Schon nach etwa zehn Minuten hatte die Sonne keine Chance mehr. Die Stadt lag im schwergrauen Licht, bei einer Temperatur von 40,5 Grad.
Ich saß am geöffneten Fenster, betrachtete das Ganze als Naturschauspiel und glaubte an einen plötzlichen und grandiosen Wetterumschwung, trotz anders lautender Vorhersagen. Ich war beinahe begeistert, ein solches Phänomen beobachten zu können, da ich schon immer extremes Wetter gemocht hatte. Also saß ich – und schaute – und wartete ab.
Wie lange ich so in die Luft starrte und meine Blicke über Häuser, Bäume und Straßen schweifen ließ, weiß ich nicht mehr. Plötzlich aber, ohne Vorwarnung und mit ohrenzerreißendem Getöse, brach ein Orkan durch die mittlerweile tief eingedunkelten Wolkenberge, stürzte sich auf die Erde und schien alles niederzuschlagen, was sich ihm in den Weg stellte. Und dann kam das Wasser, peitschender Regen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, mit immer größer werdenden Hagelkörnern. Ich schloss mein Fenster und geriet in eine fast euphorische Erregung, so spannend fand ich alles. Die Hagelkörner waren inzwischen zu eigroßen Geschossen geworden und verursachten durch ihren Aufprall einen Höllenlärm. Die Straßen und Bürgersteige, welche ich von meinem Fenster aus sehen konnte, waren weiß-eisig bedeckt, die Menschen in ihre Häuser geflohen. Es wurde immer dunkler, das Außenthermometer an meiner Fensterscheibe zeigte nur noch elf Grad, und allmählich verwandelten sich die Hagelbrocken wieder in heftig niederstürzenden Regen. So ging es eine Stunde. Vielleicht auch etwas länger. Ich rauchte, trank eine Tasse Tee nach der anderen und fühlte mich wohl in der Rolle des Wettervoyeurs.
Der Tag fiel immer mehr in sich zusammen. Gegen fünfzehn Uhr war es fast stockfinster. Und dann traute ich meinen Augen nicht: Der Regen wurde zu Schnee! Schnee im Juli? In unserer Stadt, die gerade mal zehn Meter über dem Meeresspiegel liegt? Die Schneeflocken tobten um die schon lange eingeschalteten Straßenlampen. Und mein Thermometer zeigte nur noch fünf Grad an. Also hatte es einen Temperatursturz von über fünfunddreißig Punkten
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