Der Tag an dem ich cool wurde
Schlechteste in Englisch ist bei uns eindeutig Lucas.
Der Lemmel hat sich vorne aufgebaut und gesagt: »Na, mit wem beginnen wir denn dieses Schuljahr...?«, und dann hat er ein paar Leute angeguckt, als ob er tatsächlich überlegen würde, wen er drannehmen sollte. Schließlich ist er nach hinten gegangen, hat sich dicht vor Lucas’ Bank gestellt und ganz langsam gesagt: »Herr... Berger.«
Lucas hat geschluckt und ist aufgestanden.
Ich dachte an Lucas’ Vater. Daran, wie fies er war. Ich konnte mir richtig gut vorstellen, dass er nur darauf wartete, dass Lucas wieder einmal versagte.
So einen Vater hatte niemand verdient.
Und dann hatte ich eine Idee.
Wenn der Lemmel ein Wort auf Deutsch sagte und darauf wartete, dass Lucas mit der englischen Vokabel antwortete, schrieb ich sie groß auf ein Blockblatt. Ich konnte den Block gut so halten, dass Lucas die Wörter lesen konnte, er saß ja nur eine Reihe hinter mir. Lemmel kriegte davon nichts mit, zum einen, weil er nie damit rechnen würde, dass jemand sich in seinem Unterricht so was traute, und außerdem war er viel zu versessen darauf, Lucas dabei zuzusehen, wie er mit vor Verlegenheit und Angst hochrotem Kopf dastand und ewig für eine Antwort brauchte.
Lemmel hat ihn knallhart abgefragt. Mindestens zwanzig Vokabeln, und ein paar waren ganz schön fies schwer.
Lucas hat fast immer richtig geantwortet. Nur dreimal lag er daneben: Einmal hat er wohl meine Schrift nicht lesen können und zweimal wusste ich die Vokabeln auch nicht.
Der Lemmel war völlig verblüfft, dass Lucas nicht, wie erwartet (und von ihm erhofft), versagt hatte, aber noch viel mehr war er angesäuert, weil er ihm keine Sechs geben konnte. »Aha, da hat anscheinend jemand in den Ferien seinen Kopf nicht nur dazu benutzt, Kopfhörer aufzusetzen. Eine Drei wird wohl in Ordnung gehen, nicht wahr?«, sagte Lemmel und zückte sein Notizbuch.
Ich fand die Drei eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, eine Zwei plus war ja das Mindeste gewesen. Lucas aber war offensichtlich so froh, endlich mal keine Fünf oder Sechs zu bekommen, dass er nur »Ja, sicher« sagte und sich mit einem Weihnachtsbaumlächeln wieder hinsetzte. Ich dachte daran, wie er seinem Vater von der guten Note berichten und vielleicht endlich einmal keinen Ärger bekommen würde.
Es war schon komisch. Das letzte Mal, als wir gemeinsam in diesem Klassenraum gesessen hatten, waren wir uns spinnefeind gewesen und hatten versucht, uns gegenseitig das Leben schwerzumachen. Jetzt, sechs Wochen später, war alles anders. Ich mochte Lucas immer noch nicht sonderlich, und er würde sicherlich nicht mein bester Freund werden (der saß neben mir und schrieb ab, was Lemmel gerade an die Tafel kritzelte, wobei ein Ohr aus seinem Haarwust herausragte), aber so, wie es aussah, würden wir uns nicht mehr bekriegen. Wir konnten uns gegenseitig einfach in Ruhe lassen.
Lange konnte ich darüber allerdings nicht nachdenken, denn auf einmal stupste Karli mich an.
»Lucas will irgendwas«, flüsterte er mir zu und deutete mit dem Kopf nach hinten.
Ich drehte mich um und sah gerade noch rechtzeitig, wie ein Zettel durch die Luft geflogen kam. Lucas machte mir Zeichen, dass er für mich bestimmt war.
Ich faltete den Zettel auf.
Danke, stand da. Der Affenarsch da vorne hat saublöd geguckt.
Ich grinste und wollte gerade Karli den Zettel zeigen, als ein unangenehm langer und kalter Schatten auf mich fiel. Noch bevor ich hochguckte, wusste ich, zu wem der Schatten gehörte. In der Klasse war es so still wie vor einem Sturm, wenn die Vögel aufhören zu singen.
»Aufstehen!«, sagte Lemmel.
Ich stand auf.
»Her damit!«, sagte er und deutete auf den Zettel, den ich immer noch in der Hand hielt. Mir wurde schlecht. Ich hatte keine Ahnung, ob Lemmel gesehen hatte, wo der Zettel herkam. Das wäre für Lucas der Super-GAU.
»Her damit«, sagte Lemmel wieder.
Ich sah ihn an, wie er da stand mit dem gehässigen Blick in den Augen. Auf einmal erinnerte er mich an jemanden. Jemand, in dessen Augen ich genau dieselbe Bosheit gesehen hatte, jemand, der auf keinen Fall erfahren durfte, dass sein Sohn schon am ersten Schultag Ärger bekommen hatte. »Los!«, zischte Lemmel.
Und dann hob ich die Hand mit dem Zettel hoch, und bevor Lemmel danach greifen konnte, stopfte ich mir den Zettel in den Mund. Es passierte einfach so. Schwups, war das Papierknäuel drin. Mann, war das trocken! Lemmel starrte mich an wie das achte Weltwunder.
Die ganze Klasse
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