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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Vorbemerkung
    Es war an einem etwas hohlen Sonntag im Dezember 2011, als der Verfasser der hier präsentierten Notizhefte mit der Abschrift von einigen seiner Aufzeichnungen aus jüngerer Zeit begann. Diesem Augenblick waren Besuche beim Deutschen Literatur-Archiv in Marbach und Gespräche mit dem Lektor seines Verlages in Berlin vorangegangen, die ihn in die gleiche Richtung drängten: Aus beiden Gegenden war zu hören, es sei bizarr, wenn auch faszinierend, daß ein Autor seit vierzig Jahren nahezu täglich etwas in seine Hefte kritzelt und danach nie wieder darauf zurückkommt. Ob diese Sorglosigkeit nicht etwas fahrlässig sei? Müßte man sich um diese Notizen nicht besser kümmern?
    Immerhin: Der Verfasser hatte die Hefte aufbewahrt, obschon ohne konkrete Idee, wie sie zu verwenden seien. Seit langem war ihm zumute gewesen, auf jedem dieser Hefte befände sich unsichtbar der Aufdruck: »Für später«. Ohne voneinander zu wissen, waren Ulrich Raulff und Raimund Fellinger sich einig, es müßte von jetzt an heißen: »Für demnächst«.
    An besagtem Sonntag nahm der Autor ein Heft aus dem Regal, es trug die Nummer 104. Mit einer solchen Zahl sollte man nicht anfangen, das schien evident. Er ging vier Hefte zurück, blätterte im Band 100 hin und her, fand manches merkwürdig, manches amüsant, manches belanglos, manches peinlich. Probeweise fing er mit einer Transkription der ersten Seiten an. Schnell wurde ihm klar, er würde für eine Weile beschäftigt sein. Er entschied sich dafür, vom Merkwürdigen und vom Amüsanten mehr zu übernehmen als vom Peinlichen, das Belanglose auf sich beruhen zu lassen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er nicht ständig die Kategorien durcheinanderbrachte. Die Ergebnisse der möglichen und wirklichen Verwechslungen hat man auf den folgenden Seiten vor sich.
    Die vorliegenden Notizen decken einen Zeitraum von drei Jahren ab. Da sie der Chronologie folgen, laufen sie schlicht am Gängelband der Chronistenehrlichkeit, geringfügige Umstellungen abgerechnet. Das Ausgelassene überwiegt das Beibehaltene etwa im Verhältnis drei zu eins. Da es sich um Aufzeichnungen aus der jüngeren Vergangenheit handelt, profitierte der Autor davon, daß ein gut Teil des Dargestellten noch im Gedächtnis lebendig war. Einzelne Notizen wurden bei der Abschrift erweitert und pointiert. Eine Haftung für stetige wortgenaue Abschriften aus den Vorlagen wird ausgeschlossen, die Echtheit des Stoffs aus vielen Tagen und Zeilen ist garantiert.
    Angemerkt sei, daß in dem Berichtszeitraum vier Buchpublikationen des Autors erschienen, deren Entstehungsspuren in den Notizen hier und dort erkennbar sind, am deutlichsten in bezug auf das in den ersten Heften häufiger erwähnte Buch: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik , 2009. Von der Erarbeitung der übrigen Schriften Scheintod im Denken. Über Philosophie und Wissenschaft als Übung , 2010, Die nehmende Hand und die gebende Seite. Beiträge zu einer Debatte über die demokratische Neubegründung von Steuern , 2010, Streß und Freiheit , 2011, sind nur blasse Reflexe in die Aufzeichnungen eingegangen.
    Hinsichtlich ihrer Gattungszugehörigkeit sind die folgenden Seiten nicht leicht zu klassifizieren. In formaler Sicht sind sie dem Genre der Cahiers verwandt, wie Paul Valéry sie praktizierte, sie meiden jedoch die nachträgliche Sortierung der Eintragungen nach Themengruppen, durch die Valérys Hefte bei all ihrem Glanz zuweilen den Charakter einer zeremoniellen und repetitiven Ideensammlung annehmen. Auch handelt es sich um keine Tagebücher im gewöhnlichen Sinn, geschweige denn um intime Journale oder carnets secrets. Ebensowenig treffen Begriffe wie »Denk-Tagebuch« oder »Arbeitsjournal« zu. Vielleicht kann man sich darauf einigen, sie als datierte Notizen zu betrachten – ein bisher wenig belegtes Genre. Daß in ihnen Valérys Idee der intellektuellen Komödie aufgenommen wird, ist nicht zu leugnen.
    Die Aufzeichnungen gliedern sich in zwei »Bücher«, die unter vorsichtig programmatische Titel gestellt sind – »Titel«, die diesen Namen nicht wirklich verdienen, da sie bloß unmerkliche Tendenzen andeuten.
    Das erste Buch heißt »Spuren ins Posthumien« – wobei das offensichtlich seltsame Wort »Posthumien« wie ein paläontologischer Epochenbegriff gelesen werden sollte, Ausdrücken wie »Moustérien«, »Aurignacien« oder »Magdalénien« vergleichbar. Er will zum Ausdruck bringen, was nicht mehr ganz jungen Menschen

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