Der Tag der Dissonanz
geriet. Irgendwie gelang es ihm, sich an ihr vorbei zu drücken. Nur die Tatsache, daß Clodsahamp in seinem Baum im Sterben lag, und mit ihm Jon-Toms einzige Chance, wieder nach Hause zu kommen, hielt ihn in Bewegung. Sein Kopf drehte sich wie ein Suchscheinwerfer, und er folgte mit den Augen der vollkommenen Vision, bis diese die Treppe hinab verschwand.
Als er sich weiter durch den Gang bewegte, leuchtete ihm dieses Bild grell auf der Retina nach. Niedergeschlagen entdeckte er die richtige Tür und klopfte an, wobei er sich noch einen letzten traurigen Blick auf den mittlerweile leeren Treppenabsatz gönnte.
»Mudge?« Er klopfte erneut, wollte seinen Ruf schon wiederholen, als die Tür plötzlich aufsprang und er hastig einen Satz zurück machte. In der Türöffnung stand eine Otterdame, die ein feines Spitzennachthemd an den Körper preßte. Die Augenbrauen waren künstlich gelockt und bemalt, und die Spitzen der Barthaare waren in Gold getaucht. Sie schnüffelte, was Jon-Tom jedoch nicht sonderlich beachtete. Otter schnüffelten sehr häufig.
Sie musterte ihn kurz, bevor sie an ihm vorbeischoß, mit heftig stampfenden kurzen Beinen, den Gang entlang.
Jon-Tom starrte ihr nach und wollte schon eintreten, als plötzlich ein zweites Pelzwesen der Nacht herauskam, von einer ebenso bestürzten dritten Otterdame begleitet. Sie folgten ihrer Schwester zur Treppe. Kopfschüttelnd betrat er das dunkle Zimmer.
Ein einzelner Kerzenleuchter sorgte für mattes, flackerndes Licht. Goldene Schatten tänzelten über die gemusterten Tapeten. Sonst rührte sich nichts. An gegenüberliegenden Wänden befanden sich zwei deckenhohe Spiegel. Auf einem Frisiertisch aus Chellowholz stand ein elegantes Porzellanwaschbecken. Die Tür zur Toilette stand halb offen.
An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein schmiedeeisernes Bett, mit Trauben- und Blattornamenten verziert. Das Kopfteil war leicht vornüber gebogen. Ein Haufen aus Kissen und Bettüchern füllte das Bett - ein Berg aus feinem Linnen. Jon-Tom schätzte, daß dies wohl nicht das billigste Zimmer im Haus war.
Aus der Seide und dem Satin ertönte eine gedämpfte, aber immer noch wiedererkennbare Stimme. »Bis du's, Lisette? Kommst du zurück, um mir zu verzei'en, Liebchen? War doch nur 'n Witz, was ich gesagt 'abe. War nich ernst gemeint, wirklich nich.«
»Das wäre dann wohl das erste Mal«, sagte Jon-Tom kühl. Schweigen setzte ein, dann geriet der Tuchhaufen in Bewegung, und ein Kopf kam hervor. Schwarze Augen blinzelten in der Dunkelheit. »Gott, 'ab wohl 'nen verdammten Alptraum! Zuviel gesoffen.«
»Ich weiß zwar nicht, was du zu dir genommen hast«, sagte Jon-Tom, als er auf das Bett zuschritt. »Aber das hier ist jedenfalls kein Alptraum.«
Mudge wischte sich mit den Pfotenrücken über die Augen.
»Na schön, Kumpel, dann is es eben kein Alptraum. Bist auch viel zu verdammt groß für 'nen Alptraum. Was zum Teufel 'aste du überhaupt 'ier zu suchen?«
»Dich.«
»'ast du dir aber 'ne prima Zeit für ausgesucht.« Er verschwand wieder unter der Bettwäsche. »Wo sind meine Klamotten?«
Jon-Tom drehte sich um und suchte die Schatten ab, bis er Weste, Mütze, Hose und Stiefel ausgemacht hatte. Der überdimensionale Bogen und der Köcher voller Pfeile lagen unter dem Bett. Er warf das ganze Zeug auf die Matratze.
»Da.«
»Danke, Kumpel.« Mit knappen, schnellen Bewegungen glitt der Otter in seine Kleider. »Is die Vorse'ung, die dich gerade jetzt zum armen alten Mudge führt.«
»Davon weiß ich nichts. Du scheinst richtig froh zu sein, mich wiederzusehen. Damit habe ich nicht gerade gerechnet.«
Mudge schien verletzt. »Wa? Nich froh sein, 'nen alten Kumpel wiederzuse'en? Triffst mich ja mitten ins 'erz! Warum soll ich nich froh sein, 'nen alten Kumpel wieder zusehen?«
Irgend etwas war hier faul, überlegte Jon-Tom wachsam. Wo blieben die üblichen mißtrauischen Fragen des Otters, seine beiläufigen Beleidigungen?
Wie als Antwort auf seine Frage schlug die Tür plötzlich nach innen auf. Was dort vor dem Hintergrundlicht des Gangs zu erblicken war, genügte, um selbst einen Opiumesser innehalten zu lassen.
Die gewaltig übergewichtige Dachsdame trug ein hellrotes Kleid mit Organdy-Rüschchen. Von den manikürten Fingern tropften förmlich die Ringe, und es fiel schwer zu glauben, daß die massiven Edelsteine, die den Hals einfaßten, echt waren. Sie warfen das Licht ins Zimmer zurück.
Hinter ihr drängten sich einige neugierige Kunden, als
Weitere Kostenlose Bücher