Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
das ganze Reich. Aber dennoch – so viel Aufhebens um einen Gnom!
Unmöglich konnte er unter diesen Umständen reisen. Umstürze standen bevor. Der Nachtalb hielt sich vom Treiben bei Hofe fern, doch es gab Neider. Und er hatte einiges zu verlieren. Niemand wusste, was die nächsten Monde brachten …
Er ging an sein Schreibpult zurück und entfaltete das alte Pergament wieder, suchte in den Zeilen nach neuen Erkenntnissen. Dann holte er einen Stoß feiner Blätter aus einem Seitenfach und machte sich Notizen.
Als die Sonne endgültig vom Firmament verschwand, entzündete er den talggefüllten Menschenschädel, der ihm als Leuchter für die Stunden des Übergangs diente. Dann tastete er nach dem silbergefassten Glasröhrchen um seinen Hals. Ihm blieb noch ein wenig, was er hier in der Stadt, in seinem Turm erledigen konnte. Doch wenn die Zeiten ruhiger wurden, musste er aufbrechen und seine Theorien vor Ort überprüfen. Schon seit Jahrzehnten schob er diese Reise von sich her. Und in seinem Herzen wusste er auch den Grund dafür: Ob er nun recht behielt oder nicht – nach dieser Exkursion wäre sein Leben nicht mehr wie vorher.
Und der alte Nachtalb schätzte Veränderungen nicht.
1. K APITEL:
V ON NEUEN I DEEN UND ALTEM G EBEIN
Etwas ändert sich in Daugazburg. Treffpunkte entstehen in der Stadt, neue Orte und neue Formen der Geselligkeit. Die Leute reden über Politik. Völker machen sich Gedanken über die Rolle, die sie in den Grauen Landen spielen. Und es bilden sich Zusammenschlüsse jenseits von Sippe und Volk.
Das liegt nicht nur an den Wirren nach Leuchmadans Verschwinden, nicht an dem unvermittelt beendeten Krieg, dem Abzug der Verbündeten.
Neue Ideen liegen in der Luft. Es ist ein Aufbruch in eine neue Zeit. Die Entwicklung ist unumkehrbar. Was auch immer in den nächsten Jahren geschehen wird: Daugazburg wird nicht mehr dieselbe Stadt sein wie zuvor. Eine Rückkehr der tausendjährigen Herrschaft der Fei wird es nicht geben, und selbst die Herrin wird sich bewegen müssen und dem Wandel folgen.
B LEIDAN , DER N ACHTALB ,
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I M S ILBERMOND 40 N LR – S PÄTSOMMER IN D AUGAZBURG
Frafa, die Nachtalbe, trug ein Taschentier auf der Schulter und einen Korb am Arm und versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Unwillig warf sie den Kopf zurück, sodass ihr schwarzes, halblanges Haar nach hinten flog. Die Echse schrak auf und kletterte an ihr herum. Frafa hasste Menschen, diese groben und stinkenden Sklaven, und hier gab es so viele davon!
Frafa war früh aufgebrochen, um als Erste auf dem Zollmarkt vor der Stadt zu sein. Jetzt steckte sie in der Menge fest, ehe sie auch nur den Drauzwinkel erreicht hatte.
Auf dem Platz stand eine Hinrichtung bevor. Sie hatte davon gehört. Es ging um kleines Volk, um Gnome. Frafa hätte im Traum nicht damit gerechnet, dass sich das neugierige Pack deswegen bis in die Gassen hineindrängte. Sie blickte nach oben. Die Brücken und Galerien waren ebenso überfüllt. Ob sie umkehren sollte, um die Stadt durch ein anderes Tor zu verlassen? Das würde länger dauern als die ganze Hinrichtung.
Frafa drängte weiter vorwärts. Einem Menschen, der nicht beiseiterücken wollte, stieß sie den spitzen Ellbogen ins Auge. Das Taschentier an ihrem Ohr zischte, und Frafa zuckte zusammen. Die Menge schloss sich dichter um sie. Der Korb wurde ihr so fest an den Leib gepresst, dass der Bast krachte. Frafa spürte, wie Balgir das Taschentier den Schwanz um sie ringelte und sich fester anklammerte.
Die meisten der Menschen um sie her trugen eiserne Halsringe. Es waren Sklaven, zu gering von Rang, um sich einen besseren Platz vorne im Drauzwinkel zu erkämpfen. Sie reckten sich und stellten sich auf die Zehenspitzen, sie blinzelten in die zunehmende Dunkelheit zwischen den hohen Türmen von Daugazburg und hatten doch keine Aussicht, irgendetwas von dem Ereignis mitzubekommen, um dessentwillen sie hergekommen waren.
Sie sind nur hier, um mir im Weg zu stehen, dachte Frafa.
Flinke Kobolde huschten zwischen den Beinen der Menschen hindurch, und Frafa trat nach ihnen.
Sie hielt den Korb so vor den Bauch, dass der Griff wie zufällig Balgirs Schwanz einklemmte. Das tat sie so lange, bis das Taschentier auf ihrer Schulter lauter zischte und die Krallenfüße durch den Stoff in ihre Haut bohrte. Dann machte sie sich Sorgen um ihre Ohren und achtete darauf, das Tier nicht länger zu reizen. Sie wusste
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