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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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glücklichen und unglücklichen Frauen, bis sie an die Reihe kamen. Alte, junge. In Weiß. Alle oder so gut wie alle in Weiß. Sie waren also in Trauer. Um wen trauerten sie? Um wie viele Tote? Und was bedeuteten ihnen diese Toten?
    Es war eine eigenartige Atmosphäre. Lastend. Diese Frauen hatten gerötete Augen. Vor Wut gerötet. Sie saßen auf dem Boden. Sie sprachen nicht.
    Starke Ergriffenheit packte uns, meinen Vater und mich, kaum dass wir diese befremdliche Terrasse betreten hatten. Diese Frauen, die den Tod in der Seele trugen, waren trauriger und verzweifelter als wir. Sie hatten größeres Unglück erlebt, ihre Verlassenheit war endgültig. Hier, auf dieser Welt, hatten sie keinen Platz mehr. Sie mussten nun bei null, wieder ganz von vorne anfangen. Bouhaydoura sollte ihnen dabei helfen. Er war ihr Befreier. Ihr Mann. Ihr Prophet.
    Eingeschüchtert hielten wir uns etwas abseits und wagten nicht, sie anzublicken. Wir spürten die auf uns gerich
teten Blicke der Frauen, verwundert, unnachsichtig, fragend.
    Die Welt hatte sich von Grund auf verändert. Heutzutage gingen sogar Männer zu Hexenmeistern. Sogar Männer beanspruchten Beistand durch Magie. Jetzt war alles aus. Die Männer trugen keine Masken mehr. Sie waren nun auch naiv, schwach, unten. Am Boden.
    Bouhaydoura war der Retter. Der Messias. Wir waren alle da, um unsere Verehrung zu bezeugen. Hingebung zu beweisen. Zu lieben.
    Bouhaydoura, in den Augen des Gesetzes ein Verbrecher, weil er einer Frau unabsichtlich dabei geholfen hatte, ihren Mann zu töten, war unser Oberhaupt. Der Auserkorene. Ein Heiliger zu Lebzeiten. Das Licht in der Dunkelheit meines Vaters.
    Bouhaydoura sollte mir dabei helfen, meinen Vater reinzuwaschen. Er sollte ihn läutern. Seine nie versiegenden Tränen trocknen. Ihm helfen, seine Liebe wieder zu finden. Seine Frau, meine Mutter. Meinen kleinen Bruder.
    Er sollte für uns die Welt neu erschaffen.
    Aber wollte ich das wirklich? Die Rückkehr meiner Mutter?
    Ich war mit meinem Vater zum Hexenmeister von Tabriquet gekommen, doch ich war noch von Zweifeln erfüllt. Von Hass. Von Gewaltsamkeit.
    Wir setzten uns in eine Ecke der Terrasse. Die Frauen sahen uns noch immer an. Mein Vater hielt seinen Blick gesenkt. Ich nicht. Ich kehrte den Frauen den Rücken zu und tauchte meinen Blick in die Aussicht, die sich mir bot. Meine Stadt, Salé, ihre Viertel, ihre Häuser, ihre sich bis an den Rand des Horizonts ausdehnenden Dächer, ihre Minarette, ihre Heiligenmausoleen, die Altstadt, die Stadt der Korsaren des 17. Jahrhunderts. Die Befestigungs
mauern. Die Gefängnisse. Der unendlich große Friedhof und seine Gräber aus längst vergangenen Zeiten. Und das Meer, ein Ungeheuer, ein Feind: der Atlantische Ozean. 
    In der morgendlichen Wärme dieses Sommers lauschte ich der Stille der Welt. Und am Himmel suchte ich nach Wolken: Da waren keine. Nicht mehr.
    Ich träumte. Ich schwebte. Ich malte mir alles aus und sah alles von meiner Stadt an jenem Morgen. Ich wurde zum Schriftsteller, ja, zum Dichter.
    Hoch über der Welt schrieb ich ein anderes Schicksal für mich. Mit meinem Freund Khalid.
    Ich suchte das reiche Viertel, in dem er wohnte, mein Freund und Bruder Khalid. Es hieß Hay Salam. Dort befand sich auch unser Collège.
    Hay Salam hat zwei Teile. Den armen, am Fuße des Hügels. Und den reichen, oben. Das Haus von Khalid in der Nähe des Collège war wahrscheinlich das höchste auf dem Hügel. Es war kein Haus: Es war eine Villa. Groß. Prachtvoll. Wie alle anderen in diesem Teil von Hay Salam. In meinem Viertel, Bettana, nannte man sie Paläste. Man kannte sie nur von außen. Als ich jünger war, schlenderte ich regelmäßig mit meinen damaligen Kumpeln durch die ausgestorbenen Straßen, auf der Suche nach einem Schatz, auf der Jagd nach einem verschwommenen Traum. Und kurz bevor wir wieder in unser Gebiet zurückkehrten, kletterten wir über die Mauern einer Villa und stahlen Obst. Besonders mochte ich die gestohlenen Feigen in einer Villa, die ein pensionierter Minister bewohnte. Er wohnte allein dort. Er war blind.
    In dieser sauberen Welt kannte ich nun eine Villa. Die von Khalid. Sie hatte einen Namen. Villa du Nord. Der Norden wovon?
    Khalid war jetzt gerade dort. Er schlief bestimmt noch.
Sein Zimmer war manchmal mein Zimmer. Das sagte er, um mir eine Freude zu machen.
    Ich suchte die Villa von Khalid in Salé.

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