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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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Bouhaydoura wird jeden Augenblick eintreffen. Heute findet seine große Rückkehr statt. Er hat uns allen sehr gefehlt, uns, seinen Getreuen. Wir sind ihn regelmäßig im Gefängnis besuchen gegangen, doch jedes Mal weigerte man sich, ihn zu holen. Wir seien ja nicht seine Familie, hieß es. Die anderen haben nicht die geringste Ahnung. Ohne Bouhaydoura stand unser Leben still. Heute ist ein großer Tag. Er wird wieder unter uns sein. Und für uns da. Für seine Frauen. Geh nun, geh. Wiederhole deinem Vater alles, was ich dir gesagt habe. Keine Angst, ich bin auf deiner Seite. Wirklich. Geh.«
    Ich rührte mich nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst. Sie stand ganz dicht neben mir. Sie war nicht mehr dieselbe junge Frau, die mich angesprochen hatte. Je länger sie sprach, desto verschiedener wurde sie von der Frau, die sie gewesen war. Mit einer anderen Stimme. Einem anderen Alter. Sie presste sich an mich. Ich roch ihren Geruch.
Ich erkannte diesen Geruch. Jetzt gab es nur Eines: fliehen.
    Es war der Geruch des Todes.
    Â 
    Bouhaydoura war nicht sehr alt. Er trug keinen Bart. Er war keineswegs der alte Herr, den ich mir vorgestellt hatte. Der Mythos, der ihn in Salé umrankte, traf nicht ganz zu. Und das war eine Überraschung.
    Um die vierzig. Groß, dünn, lange Nase. Sehr weiße Haut. Schwarze Augen. Kurz geschnittene Haare. Elegant in seiner hellblauen Sommer-Dschellaba. Bouhaydoura wirkte wie ein ganz und gar moderner Mann, der mit der Zeit geht. Respektabel, intelligent, geistreich. Ein Mann aus Fleisch und Blut. Kein Hexenmeister aus dem Mittelalter.
    Er flößte sofort Vertrauen ein.
    Der Raum, in dem er uns empfing, war leer. Dunkel. Nur ein sehr alter großer, roter und billiger Teppich lag auf dem Boden. Hinter Bouhaydoura, als einzige Lichtquelle, drei kleine grüne Kerzen mit zaghaften Flammen.
    Er hielt keinen Rosenkranz in der Hand. Vor ihm standen keine Weihrauchgefäße. Auf den ersten Blick hatte er kein besonderes Utensil, um seinen Beruf auszuüben. Sein Körper war sein einziges Werkzeug. Nur er bildete seine Macht und seine Verbindung mit den Dschinns, nur er war sein Reichtum und sein Ansehen. Doch reichte das aus?
    Bouhaydoura war ein erstaunlicher Mann. Jenseits des Mythos. Er schien all dessen entledigt, was ihn bei der Arbeit hätte stören können. Er hielt sich an das Wesentliche. Er war da. In Wartehaltung. Demütig.
    Als mein Vater und ich den Raum betraten, sah ich nur die groben Umrisse seines weißblauen Körpers im Dunkeln.
    Aus der Nähe sah sein Gesicht völlig anders aus. Wie das eines Irren? Eines Heimatlosen? Eines Gepeinigten? Eines
Besessenen? Eines Poeten? Eines Dissidenten? Eines Königs?
    Ein zerfurchtes Gesicht. Verbraucht.
    Ein Gesicht, das Hiebe abbekommen hat.
    Ein Gesicht, das auch weiterhin glaubt. Das bereit ist zu lächeln, trotz des Schmerzes.
    Ein Gesicht, das zurückgekehrt ist.
    Er wurde erwartet. Man hatte ihn nicht vergessen. Das wusste er.
    Aus der Nähe war er nicht nur dünn, sondern sehr mager. Die vier Jahre im Gefängnis hatten Spuren hinterlassen. 
    Bouhaydoura war nur noch Haut und Knochen. Aber schön. Schön und weiß wie ein Heiliger.
    Aus der Nähe entdeckte man endlich sein Geheimnis. Seine Haydoura .
    Das war sein kleiner, aus einem Schaffell bestehender Teppich. Angeblich sollte sie weiß sein. In Wirklichkeit war sie aber schwarz. Alt. Ein eigener, persönlicher Teppich, der aus weiter Ferne kam, aus einer anderen Zeit, aus anderen Jahrhunderten. Gar aus einer anderen Welt? Eine magische Haydoura , die unserem Hexenmeister seine Macht, seinen Platz auf der Welt und zugleich seinen Namen verlieh. Seinen Spitznamen: Bou Haydoura.
    Bouhaydoura saß auf seinem Teppich, hob und senkte bedächtig den Kopf und befand sich im Gedankenaustausch.
    Mein Vater und ich beobachteten ihn eine Zeit lang fasziniert und eingeschüchtert. Wir durften ihn keinesfalls unterbrechen, ihn durcheinanderbringen, ihn auf uns aufmerksam machen. Wir warteten. Schweigend. Betend.
    Mein Vater hatte die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich. Er sprach mit sich selbst. Er formulierte vor, was er Bouhaydoura sagen wollte.
    Später, als er vor ihm saß, stürzte sich mein Vater auf Bouhaydouras Hände und küsste sie mit aufrichtigem Eifer. Es war keine Unterwürfigkeit. Es war ein Zeichen des Vertrauens. Der Dankbarkeit. Der Brüderlichkeit. Mein Vater

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