Der Tag mit Tiger - Roman
Zeichen für ihren Entschluss. Sicher, Gefühle wie Liebe – oder war es Verliebtsein? Egal! – ließen sich nicht so ohne weiteres abstellen, auch wenn sich das Objekt dieser Empfindungen dafür als unwürdigerwies. Aber bevor sie sich selbst damit kaputtmachen würde, wollte sie eine klare Trennung vollziehen.
Eine Woche später zog Matthias aus, und Anne hatte ihre kleine Wohnung wieder für sich alleine.
Dachte sie.
Denn einen Tag nach Matthias’ Auszug – es war ein letzter warmer Sommerabend –, als sie mit ihrem Abendessen und einem Buch auf der Terrasse saß, erschien der Kater wieder. Er blieb wenige Schritte von ihr entfernt sitzen und betrachtete sie mit schräg geneigtem Kopf. Diesmal sprach Anne das Tier höflich mit halblauter Stimme an.
»Hallo, mein Kleiner. Schön, dass du vorbeikommst. Magst du ein Stückchen Wurst?«
Sie hatte so gut wie keine Erfahrung mit Katzen, hatte lediglich einen gesunden Respekt vor ihren Krallen und scharfen Zähnen. Deswegen war die erste Darreichung eines Häppchens nicht von Erfolg gekrönt. Sie hielt das Wurststückchen vorsichtig zwischen den Fingerspitzen und zuckte unwillkürlich zurück, als sich die Schnauze mit den nadelscharfen Fangzähnen näherte. Damit war das Fleisch für den Kater plötzlich wieder außer Reichweite, und deshalb tatzte er danach. Der Hieb hinterließ eine Schramme auf Annes Hand, und das Fleisch fiel auf den Boden, von wo er es gierig aufnahm und hinunterschlang.
»Es ist nicht sonderlich nett von dir, die Hand zu kratzen, die dich füttert«, bemerkte Anne ein wenig ungehalten. Allerdings blickte das Tier sie mit entsetzlich hungrigen Augen an. Sie musste trotz des schmerzenden Kratzers mitleidig lächeln.
»Du hast wohl Hunger, du wilder Tiger?«
Das Anwortmaunzen klang wie ein lang gezogenes: »Jaaauuuu!«
Also teilten sie sich das Essen, das Anne für sich zubereitet hatte, wobei für sie überwiegend Brot und Butter übrigblieben, und anschließend gab es für Tiger noch ein Schälchen Milch. Sichtlich gesättigt und zufrieden sprang er danach auf den gepolsterten Gartenstuhl, drehte sich gemütlich zusammen und schlummerte unbekümmert ein. Als Anne zu ihm ging, um ihm vorsichtig und zögernd über den Kopf zu streichen, blinzelte er ihr noch einmal zu, gab die Andeutung eines Schnurrens von sich und schlief ungerührt weiter.
Am nächsten Morgen war er verschwunden.
Er kam auch diesen und den nächsten Abend nicht wieder, und Anne fragte sich schon, ob sie die zwei Töpfchen Schleckerkatz ihrer Kollegin Ivonne für deren Katze mitgeben sollte. Doch am dritten Abend erklang ein unmissverständliches Maunzen vor der verschlossenen Terrassentür, das die Ankunft von Tiger meldete. Anne schob sofort die Tür auf. Mit vorsichtigen Schritten trat der Kater ein. Sichtlich neugierig schnüffelte er herum und begann einen Rundgang durch das Zimmer.
Anne beobachtete ihn schweigend.
Nachdem er alle Ecken, die Möbel, die Pflanzen und die auf dem Boden verstreuten Kissen begutachtet hatte, lenkte er seine Schritte zielgerichtet zur Küche. Obwohl die Tür nur angelehnt war, blieb er doch stehen, drehte sich um, wie um Erlaubnis bittend, und gab seinen Wunsch nach Nahrung durch Mimik, Gestik und Lautmalerei eindeutig zu verstehen.
Gehorsam öffnete Anne die Tür weiter, holte die Dose mit Katzenfutter aus dem Schrank, öffnete sie und legte einige Löffel voll davon auf einen Teller.
»Ich weiß nicht, wie viel du davon brauchst, aber du wirst mir sicher sagen, wenn es nicht reicht.«
Kaum stand der Teller auf dem Boden, stürzte sich Tiger darauf und bestätigte seinen guten Appetit durch lautes Schmatzen. Anschließend streifte er noch einmal flüchtig durch die Wohnung und verlangte dann energisch, wieder herausgelassen zu werden.
In den nächsten Wochen blieb dieses Ritual erhalten. Abends kam Tiger, um seine Portion Futter abzuholen, blieb einige Zeit in der Wohnung und verschwand wieder. Aber immer häufiger hatte Anne den Eindruck, dass er sich in der Nähe des Hauses aufhielt. Sie fand das eines Morgens bestätigt, als eine wohlgenährte, tote Maus vor ihrer Tür lag.
Die Tage wurden kürzer, und der Winter kam mit den ersten Frostnächten. Daher blieb Tiger nach und nach immer länger im Haus. Das Zusammenleben mit ihm erschien Anne unproblematisch. Der Kater war sauber und gut erzogen. Er sprang nach einer ernsten Ermahnung nicht mehr auf den Esstisch, er zerkratzte so gut wie keine Möbel, und seine sanitären
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