Der Tag mit Tiger - Roman
die Decke mit dem kleinen Bündel Katze in die Kiste, und Christian verschloss den Deckel mit einigen Klebestreifen.
»Man hat die Mazinde-Kinder und ihren Vater aus dem Krankenhaus entlassen. Sie sind vorerst in der Pension drüben im Altdorf aufgenommen worden«, berichtete er. »Elly muss noch ein paar Tage zur Beobachtung dableiben, sie hat sich bei dem Sturz eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen.«
»Ich hoffe, man kümmert sich gut um die Familie. Mein Gott, die haben wirklich alles verloren. Und bis die Versicherungen zahlen …«
»Das ist weniger das Problem, das Geld ist schnell verfügbar. Doch versuchen Sie mal am Wochenende alles Lebensnotwendige zu kaufen! Angefangen von Zahnbürsten bis zu vernünftiger Kleidung.«
Anne stimmte ihm zu und fragte, ob er wisse, wie man helfen könne.
»Im Moment scheint alles einigermaßen im Griff zu sein, aber ich habe mich ein wenig um die beiden älteren Kinder gekümmert, damit sie von dem Unglück etwas abgelenkt werden.Sie sind mir hoffentlich nicht böse, dass ich Eddy und Joanna mit in unser Unternehmen eingeweiht habe. Sie sind vorhin vorbeigekommen, um Prinzessin Nina die Aufwartung zu machen. Meine Katze suhlt sich förmlich in Bewunderung«, fügte er schmunzelnd hinzu.
»Aber nein, die beiden sind sehr nette, aufgeweckte Kinder. Darüber bin ich kein bisschen böse. Sind Sie soweit?«
»Ja, die Kiste ist zu. Ich schlage vor, wir fahren mit meinem Wagen zum Waldrand, er ist etwas geländegängiger als Ihr kleines Ei. Die Kinder sind schon vorgelaufen, um das Grab auszuheben.«
Anne folgte Christian zu seinem Geländewagen und stieg auf den Beifahrersitz. Dabei hätte sie sich beinahe auf Nina gesetzt, die diesen Platz bereits okkupiert hatte.
»Könntest du wohl ein Stückchen rücken, oder müssen wir jetzt in gewohnter Manier den Sitz ausbauen?«
Milde Verachtung strafte diese Worte, dann krabbelte Nina auf Annes Schoß. Christian, der diese Aktion beim Einsteigen beobachtet hatte, runzelte die Stirn und meinte, dass Nina vom Autofahren schlecht werden würde.
»Also, ich übernehme keine Verantwortung für gegebenenfalls unkorrektes Verhalten meiner Katze.«
»Nur Mut, Herr Braun, den Kopf hat Nina zu Ihrer Seite gedreht.«
Sie fuhren ohne Zwischenfall die wenigen Meter zum Waldrand hoch und bogen dann auf einen Feldweg ein. Die Sonne war inzwischen schon in einem leuchtendroten Ball untergegangen, und der Mond stand bereits als weiße Scheibe am dämmerigblauen Himmel. Der Wald duftete in der Abendstimmung, und vereinzelte Vögel sangen ihr Nachtlied.
Eddy und Joanna begrüßten Anne scheu und zeigten ihr die Stelle, die sie für das Grab ausgesucht hatten. Es lag auf einer kleinen, von blühenden Büschen umstandenen Wiese am Rand des Waldes. Dort hatten sie in der Mitte ein Grasviereck abgetragen und eine flache Grube ausgehoben.
Anne begutachtete die Stelle und lobte dann die beiden dunkelhäutigen Kinder: »Das habt ihr wunderschön ausgesucht. Hier wird sich Tiger sicher wohlfühlen. Wie die Schlehen duften!«
Sie ließ ihren Blick durch die Runde schweifen. Bei ihren gelegentlichen Spaziergängen war sie zwar schon manchmal hier vorbeigekommen, aber so zauberhaft wie in dieser Abenddämmerung hatte sie es noch nicht erlebt.
Wenig später kam Christian mit der Kiste und sah sie fragend an. Sie nahm sie aus seinen Händen und trug sie in die Mitte des Wiesenrunds zu dem ausgehobenen Grab. Als sie ihren kleinen Freund in die Erde senkte, liefen ihr stumme Tränen über das Gesicht.
Schweigend schaufelten die beiden Kinder die Erde über das Grab und deckten die Grassoden darüber. Anne trat einen Schritt zurück und blickte still und traurig auf den kleinen, unebenen Hügel im Gras. Christian, Nina, Eddy und Joanna teilten das Schweigen mit ihr.
Durch ihre letzten Tränen flimmerte das Mondlicht, und da erkannte sie plötzlich alle. Nina neben sich, Tims und Tammys schwarzweiße Gestalten, den alten Jakob, die weiße Fleuri mit ihrem Glöckchen, Diti, elegant und schlank, Rasputin, schwarz und gefährlich, King Henry, behäbig und königlich, und viele andere mehr.
Und das Licht fiel auf Tigers silbrig glänzendes Fell.
Aufrecht saß er da und stolz.
Ein Großer unter den Katzen.
Eine Wolke zog vor den Mond, und das Bild verschwamm. Nur Nina stand noch neben ihr und starrte auf den Baumstumpf vor sich.
Anne räusperte sich und sprach dann ihre Abschiedsworte.
»Leb wohl, mein Tiger, möge dein Katzenparadies eine weite
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