Der Tag mit Tiger - Roman
Fressen!
Ein Sprung auf die Arbeitsplatte, und schon steckte sie kopfüber in dem Korb. Die Dosen mit Futter waren nicht zu gebrauchen. Aber die Aluschälchen mit Schleckerkatz müsste eine normale Katze doch aufkriegen, überlegte sie. Es hatte sie sowieso gewundert, warum Tiger das noch nicht gelernt hatte. Also – schnick, die erste und – schnick, die zweite auf den Boden und hinterher. Kralle in den Deckel – ohhh, was roch das gut! Wie schnell man seine gute Erziehung vergaß, wenn man eine hungrige Katze war!
Anne hatte die ersten Bissen genommen, als ihr der beleidigte Tiger wieder einfiel. Sie ließ – wenn auch mit Überwindung – das Katzenfutter stehen und lief zurück ins Wohnzimmer, wo Tiger, schmollend die Vorderpfoten unter der Brust gekreuzt, Müffchen spielte.
»Tiger! Das Futter ist angerichtet.«
»Verarsch mich nicht … Oh, was riecht hier so gut?«
»Komm mit, Tiger!«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Im gestreckten Lauf sauste er in die Küche, entdeckte das halbgeöffnete Döschen Schleckerkatz am Boden und fiel darüber her.
Anne öffnete derweil ungerührt das zweite Döschen undverschlang den Inhalt ohne weiteren Kommentar. Es schmeckte ihr, aber das hatte sie erwartet. Nur menschliche Zurückhaltung hatte sie bislang davon abgehalten, etwas von Tigers Schleckerkatz zu naschen.
Der Kater hatte seine Mahlzeit beendet. Er saß neben dem zerfetzten Döschen und leckte sich die Lippen. Sein Blick ruhte mit einer gewissen neuen Achtung auf der grau-schwarz gestreiften Anne. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, wollte sie mit mildem Lächeln in der Stimme wissen: »Na, Tiger, kannst du jetzt wieder denken?«
Er blickte sie hochmütig an. »Als ob ich jemals damit Probleme hätte, du Staubschwanz. Jetzt ist ein Reviergang überfällig. Es hat schon viel zu lange gedauert, dir die einfachsten Übungen beizubringen. Ich muss unbedingt die Zeit aufholen, die ich damit vergeudet habe. Komm los, zuerst das Haus!«, mahnte er mit strengem Blick und ging voran.
Anne gewöhnte sich allmählich an die neue Sicht der Dinge. Sie fand es sogar erheiternd, mit ihrem Kater auf gleichem Niveau die Wohnung kennenzulernen, und fragte sich, was sie wohl sonst noch alles mit ihm zusammen erleben würde. Allerdings befand sie sich zu dieser Zeit noch im Stadium der kätzischen Unschuld. Sie hatte weder andere Katzen noch die Menschen aus ihrer jetzigen Sicht erlebt.
Tiger ging, trotz aller seiner unwirschen Kommentare, sorgfältig in seiner Ausbildung vor. Da sie endlich zufriedenstellend ihren Körper beherrschte, machte er sie mit der Wohnung aus Katzensicht bekannt.
Ein Rundgang in der Küche brachte Anne jedoch nicht viel Neues. Einige Krümel lagen am Boden. In der Ecke, wo derKühlschrank stand, tummelten sich zwei, drei Wollmäuse, und der Wasserhahn tropfte in langsamen Abständen. Tiger blieb sinnend vor dem Kühlschrank stehen.
»Das mit den Futterdöschen war keine schlechte Idee. Hast du vielleicht auch eine Vorstellung, wie man dieses Ungetüm aufbekommt?«
»Tut mir leid, im Moment fällt mir da auch nichts zu ein«, antwortete Anne. Sie hatte schon vergeblich versucht, die schwere Tür mit den Pfoten zu öffnen. Es überstieg ihre Kräfte.
Schweigend inspizierte Tiger weiter den kleinen Raum. In der Ecke hinter der Spülmaschine fand er etwas Interessantes und begann ernsthaft zu schnüffeln. Anne schien er dabei völlig vergessen zu haben.
Sie streckte derweil die Nase in die Luft und versuchte mit ihren neuen, schärferen Sinnen fertig zu werden. An die hervorragende Nachtsicht hatte sie sich schnell gewöhnt, jetzt schenkte sie dem besseren Geruchssinn ihre Aufmerksamkeit.
Der Mülleimer stank, was man durch den Schrank und trotz des fest schließenden Deckels riechen konnte. Es musste sich etwas Verdorbenes darin befinden. Von irgendwoher roch es intensiv nach Kräutern. Richtig, auf dem Küchenbord standen die Töpfe mit Petersilie und Majoran, Thymian und Basilikum. Unter der Tür zum Vorratsraum quoll ein ganzer Schwall Gerüche hervor, angenehme und unangenehme. Anne näherte sich der Tür und nahm einen tiefen Atemzug. Der Geruch von Zwiebeln und Käse traf sie und – pfui! – von Essig, wahrscheinlich von den eingelegten Gurken. Daneben roch sie etwas Unbekanntes, aber nicht Unangenehmes und natürlich die beiden übriggebliebenen Frikadellen. Das würde sie sich merken, wenn Tiger wieder hungrig würde.
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Begleiter
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