Der Tag mit Tiger - Roman
Rückgrat, das ganz augenscheinlich ein eigenes Leben führte. Weil sie merkte, dass Tiger mit ihrem Lernfortschritt zufrieden war, traute sie sich, ihm eine Frage zu den unberechenbaren Reaktionen ihres Schwanzes zu stellen.
»Da sieht man mal wieder, wie begrenzt menschliches Wissen ist. Natürlich führt der Schwanz einer Katze ein Eigenleben. Aber mit ein bisschen Lebenserfahrung kannst du ihn zähmen. Für dich reicht es, zu wissen, dass er immer geneigt ist, dich zu verraten. Also versuche deine Gedanken in Einklang mit der Situation zu halten, dann kann nichts passieren. So, als nächstes auf die Sofalehne und Balancieren üben!«
Nach einigen Anläufen gelang auch das, und Anne wurde immer selbstsicherer. Sie sprang im ganzen Zimmer umher, auf den Sessel, die Fensterbank, den Tisch und schließlich auf das Bücherregal.
»Puh, ist das staubig hier. Ich glaube, eine gute Hausfrau bin ich nicht gerade«, rief sie zu Tiger hinunter.
Die Antwort kam prompt: »Das weiß ich. Willst du jetzt da oben bleiben und mit dem Schwanz Staub wischen?«
Mit neu erwachtem Humor antwortete sie: »Nein, das würde ich ihm nie zumuten.«
»Dann komm runter, du musst dich jetzt putzen. Außerdem ist es Zeit für Futter.«
Als sie auf dem Teppich gelandet war, hieß es dann von Tiger: »Putzen! Du siehst aus wie ein strubbeliger Staubwedel. Also, Zunge raus und los!«
»Das ist aber nicht so mein Geschmack, Tiger; ich würde lieber duschen.«
»Meinst du das ernst? Wasser ist zum Saufen da, nicht zum Waschen.«
»Aber ich mag den Schmutz nicht auf der Zunge, und ich mag auch nicht die Haare runterschlucken«, maulte Anne.
»Stell dich nicht so an! Das würgt sich wieder raus.«
Mit dieser munteren Aufforderung begann Tiger seine eigene Toilette.
Versuchsweise leckte Anne über eine der weniger staubigen Stellen an der Pfote. Das Gefühl war gar nicht so übel. Die kleinen Borsten auf der Zunge glätteten das kurze Fell, und daran Haare zu schlucken gewöhnte sie sich notgedrungen auch allmählich. Vor allem entdeckte sie eine völlig neue Gelenkigkeit.
Einigermaßen entstaubt und gebürstet stupste sie Tiger wieder an.
»Gefalle ich dir jetzt?« Ein übertrieben koketter Augenaufschlag begleitete ihre Frage.
Tiger musterte sie. »Um die Ohren bist du noch ein ziemlicher Zausel«, antwortete er galant.
»Da komme ich aber mit der Zunge nicht hin.«
»Mit dir braucht man wirklich geradezu hündische Geduld. DANN NIMM DOCH DIE PFOTEN!«
Bei dem letzten Faucher machte Anne einen Satz zurück und schaute Tiger verstört an.
»Ich weiß, ich bin blöd, aber musst du denn gleich so heftigsein? Ich habe dir doch früher auch mit ruhigen Worten erklärt, warum du nicht auf den Teppich pinkeln sollst.«
Tiger grummelte irgendetwas Unverständliches in seine Barthaare und ging dann auf sie zu. »Komm her, ich richte das.«
Mit einigen geübten Zungenstrichen glättete er das Fell in Annes Gesicht und strich ihr über den Kopf. Verzückt schloss sie bei der Berührung die Augen, und ein abgrundtiefes Schnurren rumpelte unwillkürlich aus ihrer Kehle.
Als Tiger fertig war, meinte er beiläufig: »Na, so geht es. Jetzt habe ich Hunger! Mach uns mal eine Dose auf.«
»Und wie, du Scherzkeks?«
»O Mäusedreck, stimmt ja. Und jetzt?« Er sah sich hilflos um. »Der Hunger schmerzt mich schon in den Gedärmen. Ich fühle mich ganz schwach. Ich will Futter, Futter, Futter, FUTTER! HUNGERRRRRRRRR!«
Anne verfolgte mit zarter Belustigung die Verwandlung von einer rechthaberischen, überlegenen und herrischen Katze in ein hysterisches, verzogenes Haustier.
»He, Kumpel, immer mit der Ruhe. Lass uns einfach gemeinsam überlegen, wie wir das Problem lösen.«
Mit glasigem Blick schaute Tiger sie an. »Hast du das noch immer nicht gelernt? Hunger beeinträchtigt unser Denkvermögen«, keuchte er und fügte in erhobener Lautstärke hinzu: »HUNGERRRRRRR!«
»Pfff«, machte Anne und stolzierte aus dem Wohnzimmer. Erstmalig stand ihr Schwanz senkrecht in die Höhe.
Futterbeschaffung und andere Erkenntnisse
Während Anne in die Küche marschierte, dachte sie nach. Das Katzenfutter befand sich in einem der Hängeschränke. Es würde schwierig werden, daran zu kommen. Doch dann sah sie den Einkaufskorb, der auf der Arbeitsplatte stand. Sie konnte sich zwar nicht so richtig erinnern, wie er dort hinkam, denn auch sie spürte, wie ein plötzlicher Heißhunger ihr Denken behinderte. Es gab auf einmal nur noch ein Ziel –
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