Der Tag mit Tiger - Roman
sich zu Tiger auf das Sofa. Manchmal streichelte sie ihn vorsichtig und murmelte leise seinen Namen und all die liebevollen Bezeichnungen, mit denen sie ihn zusätzlich noch gerufen hatte. Angesichts des nahenden Abschieds von ihrem Tiger ließ sie noch einmal ihre gemeinsame Zeit an sich vorbeiziehen.
Es war drei Jahre her, seit sie Tiger zum ersten Mal getroffen hatte. Sie lebte damals noch mit Matthias zusammen, doch die Beziehung war, wie sie sich eingestand, schon im Scheitern begriffen. Matthias war in einem großen Unternehmen tätig und hatte auch an jenem Spätsommerabend in einem Verständnis erheischenden Monolog wieder über die Unfähigkeit seines Vorgesetzten und die mangelhaften Vorgaben in seinem Arbeitsgebiet geklagt, bis Anne ihn schließlich ungeduldig angefahren hatte: »Du beklagst dich dauernd darüber, dass alle Leute in deiner Umgebung falsche oder keine Entscheidungen treffen. Was hältst du denn davon, wenn du dein Schicksal einfach selbst in die Hand nimmst? Du könntest die Stelle wechseln, wenn das alles so unerträglich für dich ist.«
Diese Bemerkung hatte Matthias ihr übel genommen und ihr vorgeworfen, sie verstehe ihn eben auch nicht richtig. Ein Wort gab das andere, und sie gerieten in einen Streit, in dem Annes aufgestaute Bitterkeit über die ständige Rücksichtnahmeauf das empfindliche Seelenleben von Matthias in nicht immer fairen Argumenten hervorbrach.
Das Ganze fand bei geöffnetem Terrassenfenster in Annes Wohnzimmer statt, und als eine dieser giftigen Gesprächspausen eintrat, in denen beide Gegner neue Munition sammelten, schaute sie gedankenverloren in die Dunkelheit. Da entdeckte sie den kleinen weißbäuchigen Kater, der direkt vor dem Fenster saß und interessiert in das Zimmer starrte. Abgelenkt von dem Streit stand sie langsam auf und näherte sich der offenen Tür. Das Tier blieb sitzen, war aber alarmiert und fluchtbereit. Als Anne sich niederließ, um ihn etwas näher zu betrachten, sprang der Kater auf und verschwand in der Dunkelheit.
»Schade, ich hätte gerne ein paar Worte mit ihm gewechselt«, hatte sie lächelnd zu Matthias gewandt gemeint, inzwischen wieder völlig ruhig und gelassen.
Er hingegen war noch immer misslaunig und maulte: »Klar, mit Katzen und Hunden zu reden ist auch viel einfacher als mit mir. Tierische Bedürfnisse sind viel unkomplizierter als die eines Mannes.« Dann setzte er noch hinzu: »Das war schon bei meiner Mutter so. Die hat so einen exklusiven Rassespaniel, der ihr immer wichtiger war als ich. Das ist jetzt auch noch so. Wenn ich mit meinen Problemen zu ihr komme, hört sie immer nur mit halbem Ohr hin und spielt nebenbei mit diesem Köter. Aber Gnade Gott, wenn das Vieh eine Zecke im Fell hatte! Das war ihr verdammt viel wichtiger als meine Angelegenheiten.«
Anne hatte seine Mutter als patente Frau mit gesundem Urteilsvermögen kennengelernt und konnte allmählich verstehen, weshalb sie bei dem dauerhaft unverstandenen Matthiaskaum noch Geduld zum Zuhören aufgebracht hatte. Doch gerade dieses Unverstandensein hatte sie anfangs selbst so an Matthias angezogen. Ihm, einem energisch wirkenden, selbstbewussten Mann mit kantigem Kinn und sportlich schlanker Figur, hatte sie zunächst Tatkraft und Durchsetzungsvermögen zugetraut. Er hatte ihr gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft seine Schwierigkeiten mit seiner vorherigen Freundin anvertraut – sie hatte ihn einfach nicht verstanden –, und das hatte Anne geschmeichelt. Sie fühlte sich gebraucht und zur Hilfe aufgerufen. Fälschlicherweise, wie ihr nach und nach aufging. Sie hatte angenommen, Matthias mit ein wenig liebevoller Unterstützung über diesen Schicksalsschlag hinweghelfen zu können, aber statt einer Besserung fanden sich immer neue Belastungen und Zweifel, für die er von ihr eine Lösung erwartete.
Einige Abende später machte Anne dann Matthias die schmerzliche Tatsache klar, dass das Zusammensein für sie nicht mehr tragbar war. Die folgende Auseinandersetzung war weder schön noch leise und endete in einem beiderseitigen Tränenstrom.
Als Anne dann, verheult und verbittert über die ungerechtfertigten Anschuldigungen, auf die Terrasse ging und sich auf die niedrige Begrenzungsmauer setzte, tauchte der Kater wieder auf leisen Sohlen auf. Er blieb jedoch in sicherer Entfernung sitzen. Einen kurzen Moment nahmen die beiden Blickkontakt auf, dann drehte er sich um und ging erhobenen Schwanzes von dannen.
Warum auch immer – Anne wertete das als gutes
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