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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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waren, sank Richard auf der Bank zusammen – die Bewältigung der beiden Leitern und das Entlangschieben auf der schmalen Metallplanke über den Rädern hatten fast seine gesamte Kraft aufgezehrt. Aber er rückte zur Seite, damit Jack sich hinsetzen konnte, und beobachtete unter schweren Lidern, wie sein Freund den Zug wieder anfahren ließ. Jack griff nach seinem Umhang und begann das Gewehr damit zu bearbeiten.
    »Was machst du da?«
    »Ich wische das Fett ab. Das solltest du auch tun, wenn ich fertig bin.«
    Den Rest des Tages saßen die beiden Jungen im offenen Führerhaus des Zuges; sie schwitzten und versuchten, die schreienden Bäume, den verderbten Gestank der an ihnen vorübergleitenden Landschaft, ihren Hunger nicht zur Kenntnis zu nehmen. Jack fiel auf, dass um Richards Mund herum ein kleiner Garten aus offenen Geschwüren erblüht war. Schließlich nahm er Jack die Uzi aus den Händen, befreite sie von Fett und schob ein Magazin ein. Salziger Schweiß brannte in Rissen in seinen Lippen.
    Jack schloss die Augen. Vielleicht hatte er die über den Hügelkamm spähenden Köpfe nicht gesehen; vielleicht wurden sie doch nicht verfolgt. Er hörte, wie die Batterien zischten und knallend große Funken versprühten, und spürte, wie Richard zusammenfuhr. Einen Augenblick später war er eingeschlafen und träumte von Essen.
     
    10
     
    Als Richard Jacks Schulter schüttelte und ihn aus einer Welt zurückholte, in der er gerade eine Pizza von der Größe eines Lastwagenreifens verspeiste, breiteten sich die ersten Schatten über das Tal und milderten die Qual der schreienden Bäume. Sogar sie wirkten schön in dem weichen, nachlassenden Licht, in dem sie sich tief niederbeugten und die Hände vor die Gesichter hielten. Der dunkelrote Staub schimmerte und glühte. Die Schatten zeichneten sich deutlich auf ihm ab und gewannen fast zusehends an Länge. Das widerlich gelbe Gras nahm einen fast weichen Orangeton an, und das schwindende rote Sonnenlicht zeichnete schräge Streifen auf die Felsen am Rande des Tals. »Ich dachte, du würdest das sehen wollen«, sagte Richard. Um seinen Mund herum schienen sich weitere Geschwüre gebildet zu haben. Richard lächelte matt. »Es kam mir irgendwie bemerkenswert vor das Spektrum, meine ich.«
    Jack befürchtete schon, Richard würde ihm einen wissenschaftlichen Vortrag über die Farbverschiebungen bei Sonnenuntergang halten, aber sein Freund war zu erschöpft oder zu krank für Physik. Schweigend sahen die beiden Jungen zu, wie die Dämmerung alle Farben um sie herum verdunkelte und im Westen den Himmel in grandiosem Purpur erglühen ließ.
    »Weißt du, was wir außerdem noch spazieren fahren?« fragte Richard.
    »Nein«, sagte Jack. Im Grunde war es ihm ziemlich gleichgültig. Etwas Gutes konnte es nicht sein. Er hoffte, noch einen weiteren Sonnenuntergang zu erleben, der so herrlich, so stimmungsträchtig war wie dieser.
    »Plastiksprengstoff. Säuberlich kiloweise abgepackt – ich glaube jedenfalls, dass es jeweils ein Kilo ist. Genug von dem Zeug, um eine ganze Stadt in die Luft zu jagen. Wenn eines dieser Schießeisen versehentlich losgeht oder jemand anders eine Kugel in diese Päckchen jagt, ist dieser Zug nur noch ein Loch in der Erde.«
    »Wenn du’s nicht tust – ich tu’s nicht«, sagte Jack und widmete sich ganz dem Sonnenuntergang. Ein seltsames Vorgefühl stieg in ihm auf, ein Traum von Vollbringen, der Erinnerungen an alles zutage förderte, was ihm widerfahren war, seit er das Alhambra Inn and Gardens verlassen hatte. Er sah seine Mutter Tee trinkend in dem kleinen Restaurant, plötzlich eine erschöpfte alte Frau; Speedy Parker, der am Fuß eines Baumes saß; Wolf beim Hüten seiner Herde; Smokey und Lori im grässlichen Oatley Tap; all die verhaßten Gesichter des Sunlight-Heims: Heck Bast, Sonny Singer und die anderen. Er vermisste Wolf mit unvermuteter Intensität, der Sonnenuntergang und die hereinbrechende Dämmerung ließen ihn ganz deutlich vor seinem Auge erscheinen; warum das so war, vermochte Jack nicht zu sagen. Er wünschte, er könnte Richards Hand ergreifen. Dann dachte er: Warum eigentlich nicht? und schob seine Hand auf der Sitzbank vor, bis er auf die ziemlich schmutzige, klamme Pranke seines Freundes stieß. Er schloss seine Finger darum.
    »Mir ist so schlecht«, sagte Richard. »Nicht so wie – vorher. Mein Magen fühlt sich furchtbar an, und mein ganzes Gesicht brennt.«
    »Ich glaube, wenn wir aus dieser Gegend heraus sind, geht es

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