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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Ruheperiode weiter.
    Die Stahlgürtelreifen des El Dorado knirschten über den Kies. Von drinnen, durch das polarisierte Glas gedämpft, kam der Klang von Creedence Clearwater Revival. »Wer meinen Zauber kennt«, sang John Fogerty, »erfüllt das Land mit Rauch.«
    Der Cadillac stoppte vor der breiten Eingangstür. Dahinter war nur Dunkelheit. Die Doppelscheinwerfer verlöschten, und der lange Wagen stand im Schatten; aus dem Auspuff drang eine weiße Wolke, orangene Parklichter funkelten.
    Hier am Ende des Tages; hier bei Sonnenuntergang mit Farben, die am westlichen Himmel ausfächerten.
    Hier.
    Gleich hier und jetzt.
     
    3
     
    Ein schwaches, unbestimmtes Leuchten erhellte das Innere des Caddy. Der Talisman flackerte – aber nur schwach, verstrahlte kaum mehr als das Licht eines sterbenden Glühwürmchens.
    Richard drehte sich langsam zu Jack um. Sein Gesicht war blass und verängstigt. Er umklammerte seinen Carl Sagan mit beiden Händen, wrang das Taschenbuch, wie eine Waschfrau ein Laken wringt.
    Richards Talisman, dachte Jack und lächelte.
    »Jack, möchtest du, dass ich …«
    »Nein«, sagte Jack. »Warte, bis ich dich rufe.«
    Er öffnete die rechte hintere Tür, war im Begriff auszusteigen, dann blickte er zurück auf Richard. Richard saß klein und zusammengesunken auf seinem Platz, wrang das Taschenbuch in den Händen. Er sah todunglücklich aus.
    Ohne jedes Nachdenken kehrte Jack in den Wagen zurück und küsste Richard auf die Wange. Richard legte seine Arme einen Augenblick lang um Jacks Hals und drückte ihn fest an sich. Dann ließ er Jack los. Keiner von ihnen sprach ein Wort.
    4
     
    Jack machte sich auf den Weg zu den Stufen, die zur Halle hinaufführten – dann wendete er sich nach rechts und trat stattdessen an den Rand der Auffahrt. Hinter einem Eisengeländer fiel rissiges Gestein terrassenförmig zum Strand hin ab. Weiter rechts ragte die Achterbahn des Vergnügungsparks in den dunkelnden Himmel.
    Jack hob das Gesicht ostwärts. Der Wind, der durch die Gartenanlagen fegte, blies ihm das Haar aus der Stirn.
    Er hob die Kugel in seiner Hand, als böte er sie dem Meer als Opfer an.
     
    5
     
    Am 21. Dezember 1981 stand ein Junge namens Jack Sawyer nahe dem Ort, wo Wasser und Land zusammentreffen, einen Gegenstand von nicht unbeträchtlichem Wert in den Händen, und blickte hinaus auf die nächtliche Weite des Atlantik. Er war dreizehn fahre alt geworden an diesem Tag, wenn er es auch nicht wusste, und er sah ungewöhnlich gut aus. Das braune Haar war lang – ein wenig zu lang-, aber der Seewind wehte es ihm aus der klaren Stirn. Er stand da, dachte an seine Mutter und an die Zimmer in diesem Hotel, die sie miteinander geteilt hatten. Würde sie da oben ein Licht einschalten? Er war ziemlich sicher, dass sie es tun würde. Jack drehte sich um, und seine Augen blitzten im Licht des Talismans.
     
    6
     
    Lily tastete sich mit einer zitternden, abgemagerten Hand an der Wand entlang, suchte nach dem Lichtschalter. Sie fand ihn und drückte darauf. Jeder, der sie in diesem Augenblick gesehen hätte, hätte sich wahrscheinlich entsetzt abgewendet. Im Lauf der letzten Woche hatte der Krebs in ihr zum Endspurt angesetzt, als ahnte er, dass etwas unterwegs war, das ihm den Spaß verderben würde. Lily Cavanaugh wog jetzt neununddreißig Kilo. Ihre Haut war fahl und spannte sich über ihren Schädel wie Pergament. Die braunen Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden; die Augen selbst starrten mit fiebernder, erschöpfter Intelligenz aus ihren Höhlen. Ihr Busen war verschwunden. Das Fleisch an ihren Armen war verschwunden. Ihr Gesäß und die Rückseiten ihrer Oberschenkel waren durchgelegen.
    Und das war nicht alles. Im Lauf der letzten Woche hatte sie sich eine Lungenentzündung zugezogen.
    In dem Zustand, in dem sie sich befand, war sie natürlich für eine Erkrankung der Atemwege eine erstklassige Kandidatin. Es hätte auch unter günstigsten Umständen passieren können – und die Umstände waren alles andere als günstig. Das nächtliche Gluckern in den Heizkörpern des Alhambra war schon vor einiger Zeit verstummt. Wie lange das her war, wusste sie nicht – die Zeit war für sie so undefinierbar geworden wie für Jack im El Dorado. Sie wusste nur, dass die Wärme am gleichen Abend verschwunden war, an dem sie die Fensterscheibe zerschlagen hatte, um die Möwe zu verjagen, die aussah wie Morgan Sloat.
    Seit jenem Abend hatte sich das Alhambra in einen verlassenen Eiskeller verwandelt.

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