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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Zustand, der sie jedesmal ergriff, wenn sie mit Thévenoz zusammen war. Sie blieb an O'Key gelehnt, auch als es draußen läutete. Dominicé ging öffnen.
    »Es ist Thévenoz«, sagte der Professor und versperrte die Türe mit seinen breiten Schultern.
    »Er soll nur kommen«, sagte Madge und richtete sich ein wenig auf. Aber als sie Thévenoz sah, bedauerte sie ihre Haltung, sie ging ihm entgegen und schüttelte ihm die Hand.
    Thévenoz sah schlecht aus. Seine dünnen Haare waren glanzlos und sein Gesicht schien bedeckt zu sein mit einem staubigen Gewebe. Er war zu müde, um sich über irgend etwas zu wundern, er starrte an Madge vorbei in das grelle Licht der Lampe, die immer noch, wie ein Scheinwerfer, gegen das Innere des Zimmers gerichtet war. Endlich schien ihn die Helle doch zu stören, er schloß die Lider und drückte Daumen und Zeigefinger auf die Augen.
    »Er ist uns doch abhanden gekommen«, sagte Thévenoz und nichts hätte verzweifelter wirken können, als sein schwacher Versuch, zu kohlen, »und Rosenstock hat sein zugenähtes Knopfloch zerrissen, zum Zeichen der Trauer und als Symbol für das Zerreißen der Kleider. Er hat Klagetöne ausgestoßen, und ich habe ihn aus dem Zimmer werfen müssen. Aber denken Sie, Meister, die Russin ist wieder dagewesen, kurz vor dem Exitus. Sie kam ins Zimmer, beugte sich über Eltester, strich ihm mit den Fingern über die Stirn, und dann verschwand sie wieder, lautlos, schweigend. Ich hab sie aufhalten wollen, nichts zu machen. Sie hätten eher einen Schatten aufhalten können. Was glauben Sie, Meister, sollte ich der Polizei davon erzählen?«
    »Das wird nicht nötig sein, Thévenoz.« Professor Dominicé saß wieder am Schreibtisch, das Gesicht in den Schatten des Lampenschirmes getaucht. »Der Herr dort steht mit zwei modernen Gewalten auf vertrautem Fuße, mit der Presse und mit der Polizei, er wird Ihre Bestellung ohne weiteres übernehmen.« Und Dominicé legte ein Bein über das andere, verschränkte mit einer sanften Bewegung die Hände und wartete geduldig auf die Wirkung seines Ausspruches. Es sah aus, als wolle er sich auf eine kindliche Art für lästige Ausfragerei rächen, und doch wirkte diese Rache viel eher traurig als boshaft. Thévenoz blickte böse in die Ecke, in der O'Key neben Madge saß. Aber er schwieg, nur Madge sagte ruhig:
    »Jonny, du mußt nicht alles glauben, was dein Meister sagt. O'Key will uns helfen, das hat er mir gesagt, und ich glaub's ihm. Es ist nur schwer, mit dem Professor zu verkehren, er ist so mißtrauisch und so verschwiegen.«
    Da räusperte sich O'Key und während sein Blick auf Thévenoz' Füßen haften blieb, fragte er – er ahmte den zögernden Tonfall Thévenoz' nach –: »War Ihr… Besuch, Ihr… Krankenbesuch interessant, Dr. Thévenoz?«
    Thévenoz sah hilflos aus, wie ein ertappter Schuljunge. In diesem Augenblick, und mit diesem Ausdruck, fühlte Madge mit Thévenoz ein Mitleid, das in des Wortes wahrster Bedeutung als brennend zu bezeichnen war. So brennend, daß es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie sah diesen Doktor Thévenoz, den sie oft gequält, oft verspottet hatte, mit einer Deutlichkeit, die an Hellsichtigkeit grenzte: diesen grundanständigen Kerl, der sich abplagte, gewissenhaft, mit andern, mit sich selbst, dem es nie gelingen würde, sich durchzusetzen, weil er eben zu anständig war, weil er sich zu große Mühe gab, die andern zu verstehen, und weil er es nicht verstand, auch gegen sich selbst rücksichtsvoll zu sein. Und sie verglich ihn mit dem Manne an ihrer Seite, jenem O'Key, den sie erst seit einer Stunde kannte (war es wirklich nur eine Stunde, und nicht Jahre?): ›Vergleichen kann man die beiden nicht‹, dachte sie, ›denn das ist der Befreier.‹
    Ihr Leben in den letzten Jahren schien ihr plötzlich dem Zustand jener Eichhörnchen zu gleichen, die in einer Drahttrommel die Pfoten bewegen, und die Trommel dreht sich, aber die Tiere kommen doch nicht vom Platz. Thévenoz, der war eben solch ein Eichhörnchen, eingesperrt in die Trommel des Berufs, und die Trommel drehte sich, man wurde müde, aber man kam doch nicht vom Platz. Sie sehnte sich danach, mit O'Key irgendwohin, weit weg zu gehen, in der Sonne am Meer zu liegen und den Sand durch die Finger rinnen zu lassen; keinen weißen Mantel mehr anziehen zu müssen, keine Kranken mehr zu sehen, keine Visite mehr zu machen, nur dazuliegen, im warmen Sand, oder über die Felsen zu klettern. Mit diesem O'Key verstand man sich

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