Der Tee der drei alten Damen
ohne zu reden, er wußte sicher viel, nahm einen an der Hand, ging mit einem fort – und alles war leicht und gar nicht mehr kompliziert. Und wieder sah sie den Baum auf dem väterlichen Landgut und den kleinen rothaarigen Jungen, mit dem sie, ganz oben in den Zweigen, tagelang geschwiegen hatte. Sie seufzte, und dann hörte sie Thévenoz antworten:
»Das sind meine Angelegenheiten, und ich habe es nicht gerne, wenn man sich in meine Angelegenheiten mischt.«
›Wie komisch doch die Männer sind‹, dachte Madge, ›sie sind so stolz darauf, eigene Angelegenheiten zu haben. Was heißt das, eigene Angelegenheiten! Sie wollen sich ja nur interessant machen.‹
O'Key schien Ähnliches zu denken, denn er grinste und sein Grinsen war reichlich frech. Dann erhob er sich und sagte abschließend:
»Ich werde also Fräulein Lemoyne heimbringen und Sie beide Ihren Angelegenheiten überlassen. Wenn aber diese ›Angelegenheiten‹ reif für die Öffentlichkeit sein werden, so möchte ich mich empfohlen halten. Ich könnte vielleicht dann noch nützlich sein.« Er machte zwei große Schritte, stand vor dem Professor, schüttelte ihm die Hand, verbeugte sich vor Thévenoz und verließ das Zimmer; doch vergaß er nicht, Madge und ihrem Hunde Ronny den Vortritt zu lassen.
Dr. Jean Thévenoz, Arzt am Kantonsspital Genf, hätte gar nicht weit zu suchen brauchen, um Aufklärung über die geheimnisvolle Dame zu erhalten, deren Hauptbeschäftigung es zu sein schien, vergifteten Personen eine Abschiedsvisite vor ihrem Weggang aus dieser Welt abzustatten. Er hätte sich nur an den Bruder seines Assistenzarztes Rosenstock zu wenden brauchen, einen neunzehnjährigen Jungen, der eben daran war, sich auf die Matura vorzubereiten, indem er die meisten Stunden schwänzte, Professor Dominicés Vorlesungen besuchte und außerdem an seiner ersten Liebe erkrankt war. Wladimir Rosenstocks Bruder Jakob hatte vor einiger Zeit die Bekanntschaft der Russin Natalja Kuligina gemacht.
Es wäre noch vorauszuschicken, daß es drei Brüder Rosenstock gab: den Assistenzarzt, der im Alter nach Isaak kam, dem Advokaten. Der Advokat, er war bekannt und nicht unbeliebt, hatte zu Beginn seiner Karriere die letzte Silbe seines Patronyms verloren. Er nannte sich Isaak Rosène, und da biblische Vornamen in puritanischen Gesellschaften nichts seltenes sind, da außerdem der Fürsprech Rosène glattrasiert war und blond wie reife Ähren (Erbschaft der Mutter, einer de Morsier, weitläufig verwandt mit dem Sonnette dichtenden Staatsanwalt, was übrigens Isaaks Fortkommen im ›Palais‹ bedeutend erleichtert hatte), hielt man ihn nur ganz selten für einen Juden. Und hätte man es auch getan, so wäre es nicht schlimm gewesen. Es gab nur wenig Antisemiten in Genf und diese hatten nicht viel zu sagen, da sie von einem jungen Manne angeführt wurden, dem es selber nur schwer gelang, seine Abstammung von Noahs Sohne Japhet glaubhaft zu machen.
Doch wir wollten von Jakob Rosenstock erzählen, dem jüngsten der Brüder, seiner Bekanntschaft mit Natalja Invanovna Kuligina und seiner ersten Liebe. Die drei Brüder bewohnten eine einsame Villa ganz in der Nähe der Palanterie, jenes Sumpfes, der den Genfern im Winter als Schlittschuhlaufplatz dient. Die Eltern der drei Brüder waren vor bald fünfzehn Jahren gestorben, Isaak war damals noch ins Gymnasium gegangen, aber trotz dieses Trauerfalles hatten die jüngeren Geschwister, Wladimir und Jakob, eine glückliche Jugend verbracht. Isaak, der spätere Advokat, hatte es mit bewundernswerter Energie verstanden, sich die Einmischung von Onkeln, Tanten zu verbieten. Er hatte sich an Herrn Philippe de Morsier gewandt, den Verwandten seiner Mutter, der damals noch kleiner Richter am Polizeigericht war, und durch dessen Vermittlung gelang es ihm, schon in seinem neunzehnten Jahre mündig gesprochen zu werden. Vater Rosenstock hatte ein annehmbares Vermögen hinterlassen, außer der Villa am See. Die Erziehung der jüngeren Brüder übernahm Angèle (Angelika, wenn es Ihnen lieber ist), eine katholische Savoyerin, kinderlose Witwe, die sich mit Begeisterung der Knaben annahm. Das Erziehungsresultat war gar nicht übel. In der Villa am See herrschte ein freier Ton. Außer Mutter Angèle gehörte noch André, der Chauffeur und Gärtner, zur Familie.
Da die Villa ziemlich weit von der Stadt entfernt war, kam keiner der drei Brüder zum Mittagessen heim. Am schwierigsten war es für Jakob, den Gymnasiasten, gewesen, einen
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